Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Meisen

Cover Tjernshaugen Meisen

© Insel

Meisen zählen zu den Vögeln, denen ich im Garten und meiner Umgebung besonders häufig begegne. Ab dem Frühjahr höre ich schon morgens ihren Gesang. Ich sehe ihnen beim Heranschaffen von Nistmaterial zu und warte gespannt, ob es klappt mit dem Brüten. Wenn ja, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich bei der Gartenarbeit energisch aufgefordert werde, das Feld zu räumen, damit die Meiseneltern ihre Küken füttern können. Dann lasse ich selbstverständlich alles stehen und liegen! Ich bewundere, wie sie kopfüber in Nachbars Fichte an den Zapfen picken und einander munter durch die Büsche jagen. Eine lebendige, schwatzhafte Truppe, die nicht allzu schüchtern ist. Bisher konnte ich ihr Verhalten nicht immer deuten. Bis ich das Buch Das verborgene Leben der Meisen von Andreas Tjernshaugen entdeckte!

Kohlmeisen und Blaumeisen sind besonders gut erforschte Vogelarten, da sie häufig in der Nähe der Menschen leben. Der norwegische Autor und Journalist Andreas Tjernshaugen fing bei einem Vortrag, den er zusammen mit seinem Vater besuchte, Feuer für das Thema. Er entschied, seine Wissenslücken über die Meisen zu schließen und ein Buch darüber zu schreiben. Nicht umsonst ist Tjernshaugen Redakteur bei der Internet-Enzyklopädie Das große Norwegische Lexikon. Also stürzte er sich mit lexikalischem Eifer in die Recherchen auf Websites, in Ornithologie-Fachbüchern und bei Vogelforschern der Universität Oslo. Im heimischen Garten auf der norwegischen Halbinsel Nesodden brachte er einen Nistkasten mit Kamera an, um das Leben der Meisen aus nächster Nähe zu studieren.

Das Ergebnis ist ein Buch mit lebendigen Beschreibungen seiner Beobachtungen im Jahresverlauf, angereichert mit Erkenntnissen aus der aktuellen Vogel-Forschung. So erfahren wir nahezu alles über das Leben dieser in Europa sehr häufigen Singvögel, über ihr Balzverhalten und die Aufzucht ihrer Jungen, über das Erlernen des Gesangs, über ihre Intelligenz und Anpassungsfähigkeit sowie ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten. Auch die Methoden und Tricks der Ornithologen werden erklärt. Zum Beispiel vertauscht man die Eier der Blaumeisen und Kohlmeisen, um herauszufinden, was angeboren ist und was erlernt wird.

Besonders fasziniert mich der Speiseplan der Jungvögel. Andreas Tjernshaugen konnte dank der Kamera in seinem Nistkasten beobachten, wie die Meiseneltern das Nahrungsangebot an die Bedürfnisse ihres Nachwuchses anpassen: Wenn die Jungen geschlüpft sind, besteht ihre Hauptnahrung zunächst aus Spinnen, um reichlich Taurin zu sich zu nehmen. Forscher haben herausgefunden, dass dies wichtig ist für die Hirnentwicklung, ihre Lernfähigkeit und die motorische Entwicklung. Später werden die Küken mit Schneckenhäusern gefüttert, um ihren Bedarf an Kalzium für den Knochenaufbau zu decken. Und den größten Hunger haben sie, wenn es in der Natur die meisten Raupen gibt – die Norweger nennen diese Zeit den Raupengipfel. Voraussetzung ist der optimale Zeitpunkt für das Eierlegen und Brüten – ein mehrjähriger Lernprozess der Meisenmütter!

Der Autor lässt uns an seinen Beobachtungen über das verborgene Leben der Meisen teilhaben. Er nimmt uns mit ins Naturkundliche Museum in London, wo er sich über die Evolution der Vögel informiert oder zum Besuch eines Ornithologen der Universität Oslo, dem er beim Beringen frisch geschlüpfter Blaumeisen hilft. Dank vieler Fotos und Abbildungen sind wir immer nahe am Geschehen und lernen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Meisenarten kennen. Im Anhang gibt es sogar noch einige Tipps zum Nistkastenbau, zur Meisenfütterung und zur vogelkundlichen Weiterbildung. Was will man mehr?

Jetzt beginnt wieder die Zeit, wo ich den Meisen am Futterhäuschen zusehen kann – gestärkt mit neu gewonnenem Wissen! Andreas Tjernshaugens Buch Das verborgene Leben der Meisen ist perfekt geeignet für Menschen, die gern Vögel beobachten und diese scheinbar vertrauten Vogelarten genauer kennenlernen wollen!

Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Meisen
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Insel Verlag 2017, 234 Seiten mit vielen Fotos und Abbildungen
ISBN 978-3-458-17723-4 Steifbroschur
ISBN 978-3-458-36394-1 Taschenbuch
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12 Kommentare

  1. Liebe Petra,
    das ist wieder eine Lektüre genau nach meinem Geschmack! :-)
    Das Titelbild fängt sehr treffend die luftige Verspieltheit dieser Vögel ein.
    In meinem Garten gibt es auch Blau- und Kohlmeisen und sie kommen auch gerne auf meinen Balkon und jagen dort nach Insekten. Allerdings haben sie auch mein Insektenhotel geplündert …
    Manche sind so vorwitzig, daß sie im Sommer, wenn die Balkontüre weit geöffnet ist, munter und neugierig in meine Küche hüpfen – auch wenn ich im Raum bin.
    Im Winter stelle ich ein Schälchen mit geschälten Sonnenblumenkernen und Erdnüssen auf den Balkon und dann gibt es, zu erstaunlich regelmäßigen Futterzeiten Meisenkino zu beobachten. Sie haben wirklich ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und die Toleranzschwelle für meine Anwesenheitsnähe hinter der Balkontüre ist dementsprechend unterschiedlich.
    Sei herzlich bedankt für Deine feine und aussagekräftige Buchempfehlung!
    Naturverbundene Grüße von
    Ulrike

    • Meisenkino, das Wort gefällt mir :-) So nah wie bei dir kommen sie hier allerdings nicht. Ach, es ist spannend, dass du sogar die Unterschiede im Verhalten feststellen konntest. Hier im Buch findest du noch mehr über wagemutige und schüchterne Persönlichkeiten.
      Liebe Grüße!

  2. Das ist wieder ein Tipp, den ich nicht ignorieren kann. Danke!

  3. Seltsam eigentlich: Über diverse Greifvögel, die kaum jemand von uns in freier Wildbahn zu Gesicht bekommt, erschienen in den letzten Jahren jede Menge Bücher, während die Vögel, die fast jeder aus dem heimischen Garten kennt, kaum Beachtung finden. Schön, dass die Meise nun doch gewürdigt wird — in das Buch werde ich auf jeden Fall einmal reinschauen.

    • Da hast du recht! Die Faszination für Greifvögel liegt vielleicht gerade in ihrer Fremdheit und Unzugänglichkeit. Umso erfreulicher, dass mit diesem Buch eine Lücke über diesen vertrauten Singvogel geschlossen wird.

  4. Ah mal wieder Lektüre für meine zwei Süßen, der Lütte braucht wohl noch etwas, aber gut vorbereitet sollte unsere Bibliothek schon sein. LG, Bri

    • Es ist zwar kein Jugendbuch, aber wenn sich jemand für das Thema interessiert oder gern Vögel beobachtet, ist es sicher auch für junge Leser geeignet. Der Autor formuliert sehr gut verständlich. Wie alt sind denn deine Süßen?

  5. Schön, nähere Zusammenhänge über die Nahrungsbedürfnisse der Jungmeisen und vieles mehr in Erfahrung zu bringen.
    Als Neil Shubin-Fan dürfte Dich auch bei “Meeertext” von Bettina Wurche die zwei Kapitel über den Fisch in uns interessieren.

    • Danke für deinen Hinweis. Bettinas Blog lese ich sehr gern, daher kenn ich auch die Shubin-Artikel und das erwähnte Buch. Hier im Blog habe ich ein anderes Buch von Shubin über die Entwicklung des Lebens vorgestellt:
      https://www.elementareslesen.de/neil-shubin-das-universum-in-dir/ Das war auch sehr interessant.
      Im Meisenbuch werden übrigens auch Vergleiche zu anderen Tierarten, unter anderem den Menschen, gezogen. Ob es um das Sexualleben oder die Lernfähigkeit geht – es gibt eine Menge Parallelen.

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