Caspar Henderson: Wahre Monster – Ein unglaubliches Bestiarium

Cover Henderson Wahre Monster

© Matthes & Seitz

Im Gegensatz zu den Fabelwesen und mythischen Tieren eines mittelalterlichen Bestiariums oder den von Jorge Luis Borges in seinem Buch Einhorn, Sphinx und Salamander fantasierten Wesen sind in Caspar Hendersons Buch Wahre Monster nur Tiere zu finden, die der Realität entsprungen sind, so wie der Axolotl, der Dornteufel, das Käuzchen Xenoglaux, die Yeti-Krabbe oder der Mensch. Das Ziel des britischen Journalisten ist es, uns mit diesen wunderlichen Kreaturen vertrauter zu machen und den Blick für die von Menschen verursachten Veränderungen in deren Lebensraum zu schärfen.

Die meisten der 27 Lebewesen in diesem Bestiarium sind Meeresbewohner, denn das Meer ist das größte Ökosystem der Erde. Zugleich enthält es eine gewaltige Anzahl Lebewesen, die den meisten von uns völlig unbekannt sind. Zeit, sie endlich kennen zu lernen.

Doch beim reinen Kennenlernen bleibt es nicht. Henderson porträtiert diese Monster und folgt ihren Spuren durch die Naturgeschichte und Kultur. Dieses Buch ist eine echte Wundertüte. Man weiß nie, was in einem Kapitel drinsteckt – jedenfalls nicht nur das, was die Überschrift, nämlich die Bezeichnung der Tiere, verheißt. Es gibt hier keine Systematik, die sich dem Leser erschließt. Also schlendern wir einfach mit Caspar Henderson durch die Fauna der Erde. Lassen wir uns nicht von den Überschriften irritieren. Erwarten wir – überrascht zu werden!

  • Das Kapitel über den Fangschreckenkrebs Gonodactylus nimmt der Autor zum Ausgangspunkt für eine Beschreibung der Evolution des Auges, das in erstaunlicher Vielfalt existiert, von Facettenaugen bis Linsenaugen.
  • Der Plattwurm und andere Wurmartige existieren mindestens seit dem Kambrium. Also lernen wir etwas über diese geologische Periode einschließlich der möglichen Ursachen für die Kambrische Explosion.
  • Der Kugelfisch führt zu einem Exkurs über die menschlichen Ernährungsgewohnheiten.
  • Und die Springspinne Mystaceus nimmt Henderson zum Anlass, die unterschiedliche Wahrnehmung und Gehirnleistung von Springspinnen und Menschen zu vergleichen.

Was ich zunächst für Abschweifungen hielt, ist ein typisches Stilmittel dieses reizvollen Buches. Es geht gar nicht so sehr um das jeweils porträtierte Lebewesen, sondern um ganz verschiedene Dinge: um die Evolution, die Epochen der Erdgeschichte und vor allem um den Menschen und seine Eingriffe in die Natur. Henderson weist beharrlich darauf hin, wie fragil das ökologische Gleichgewicht der Erde ist. Er befürchtet, dass die Menschen durch ihre Lebensweise ein sechstes Massenaussterben bewirken. Um das zu verhindern, sind bessere Kenntnisse der Natur notwendig.

Im Kapitel über Delfine erfahren wir nicht nur einiges über deren unglaubliche Intelligenz, sondern auch Generelles über die Kommunikation in der Tierwelt, zum Beispiel über Klicklaute, Pfeiftöne, Körpersprache:

Am Anfang war, möglicherweise, nicht das Wort, sondern die Geste. Und wie die gerade aufkommende Disziplin der Biosemantik darlegt, fangen wir gerade erst an, hinter die  bemalte Theaterkulisse zu schauen, auf der menschliche Sprache scheinbar alle Bedeutung bestimmt, und nehmen eine größere Welt in den Blick, in der die Sprache der Menschen nur ein Phänomen unter mehreren in einem größeren Netz von Bedeutungen darstellt.

Denn Tieren stehen Möglichkeiten zur Verfügung, von denen wir Menschen nur träumen können. Daher fordert Henderson auch unseren Respekt.

Besonders fasziniert mich der mikroskopisch kleine Wasserbär. Dieses Tierchen ist in allen Lebensräumen der Erde anzutreffen, kann bei – 270º C ebenso überleben wie bei + 150º C, es ist also polyextremophil und kann sogar den Härtebedingungen des Weltalls trotzen. Es könnte sogar der Menschheit helfen, länger zu überleben, wenn wir dessen Fähigkeiten nur besser verstehen würden.

In diesem Bestiarium werden Naturforscher, Anthropologen, Kulturwissenschaftler, Historiker und andere Fachleute konsultiert, so dass man am Ende der Lektüre das Gefühl hat, zwar wenig Konkretes über die einzelnen Tiere erfahren zu haben, aber unglaublich viele Eindrücke über das Gesamtsystem Natur aufgeschnappt hat.

Mit der dunkelblauen Schrift und den bronzefarbenen Anmerkungen, Leinenbindung und Lesebändchen verfügt der Band über eine sehr edle Aufmachung. Zu allen Porträts gibt es Zeichnungen von Pauline Altmann und Judith Schalansky. Die sind Poesie fürs Auge, so dass ich mich nicht entscheiden könnte, welche Zeichnung am schönsten ist.

Obwohl in den einzelnen Kapiteln sehr verschiedene Lebewesen vorgestellt werden, geht es doch letztendlich immer um den Menschen, seinen Bezug zu dem jeweiligen Tier oder um spezifisch menschliche Eigenschaften. Das wahre Monster ist eindeutig der Mensch!

Wahre Monster ist kein Sachbuch im eigentlichen Sinne. Darin wird keine konzentrierte Information geliefert, sondern vom Hölzchen aufs Stöckchen und wieder zurück gesprungen – und das gelingt dem Autor sehr unterhaltsam und mit Bravour!

So, das wars für 2014. In diesem Jahr folgen keine weiteren Beiträge. Daher wünsche ich Euch allen schon mal eine schöne, entspannte Weihnachtszeit und vor allem viel Zeit für gute Bücher!!!

Nachtrag: Wissensbuch des Jahres 2015 in der Kategorie Ästhetik

Caspar Henderson: Wahre Monster – Ein unglaubliches Bestiarium
Aus der Reihe Naturkunden von Judith Schalansky (Hrsg.)
Aus dem Englischen von Daniel Fastner
Matthes & Seitz Verlag 2014
ISBN 978-3-95757-030-7

Beitrag empfehlen

9 Kommentare

  1. Ich WILL und MUSS das JETZT haben! Die Monster stehen auf meinem Weihnachtswunschzettel. Dir wünsche ich auch ein frohes Fest, schöne Tage und tolle Lektüren, liebe Petra!

  2. Vom Wasserbär habe ich schonmal an anderer Stelle gehört, ich kann mich bloß nicht mehr genau erinnern, aber ich weiß, daß ich ihn da schon erstaunlich fand. Zum anderen scheint das Buch auch eine wohltuende Alternative zu diesen überzogenen Fernsehsendungen zu sein, wo erstaunliche Tiere gegenübergestellt werden, um imaginäre Kämpfe zu gewinnen. Und schlussendlich scheinen viele der Lebewesen (aus dem Buch) der Tiefsee entstiegen, die mich sowieso fasziniert… also eindeutig ein Kandidat für meine Wunschliste.
    Vielen Dank und auch Dir eine frohe Weihnachtszeit und einen guten Rutsch!

  3. Dir auch wunderschöne Weihnachtstage und bis zum nächsten Jahr! Dann lesen wir uns ja wieder.
    Viele Grüße, Claudia

  4. Hach, was für ein herrliches Buch! Ich sah es schon und liebäugelte und nun auch noch deine Empfehlung … Das muss ein Zeichen sein ; )

  5. Na, so ein Zeichen darfst du nicht ignorieren ;-)
    Liebe Grüße von Petra zu Petra

  6. Pingback:Werbefrei | Philea's Blog

  7. Pingback:Monster-Verlosung zum Welttag des Buches | Elementares Lesen

Kommentare sind geschlossen