Douwe Draaisma: Halbe Wahrheiten

Cover Draaisma Halbe Wahrheiten

© Galiani

Erinnerungen verändern sich ständig im Laufe des Lebens. Dieser Prozess wird durch neue Erfahrungen, schlichtes Vergessen, Verdrängen oder durch das Erzählen über etwas Vergangenes ausgelöst – auf der Basis unserer jeweiligen Lebensumstände.
Douwe Draaisma, Professor für Psychologiegeschichte in den Niederlanden, ist spezialisiert auf die Erforschung des Gedächtnisses und der Träume. In seinem kurzweiligen Buch Halbe Wahrheiten untersucht er, wie zuverlässig unsere Erinnerungen sind und wie sich bestimmte Situationen auf die Erinnerungen auswirken.

Fast ein Drittel des Buches beschäftigt sich mit dem sogenannten Unabomber Ted Kaczynski. Dieser tötete von 1978 bis 1995 drei Menschen durch Briefbomben und verletzte 23 weitere. Erst 1996 wurde Kaczynski unter Mithilfe seines Bruders gefasst. An diesem Fall erklärt Draaisma gleich mehrere Mechanismen, die den Blick auf die Vergangenheit beeinflussen. Die Kenntnis seiner mörderischen Taten führte bei Kaczynskis Angehörigen zu einer Umdeutung der gemeinsamen Vergangenheit. Es stellte sich heraus, dass der Unabomber eine völlig andere Version seiner Kindheit im Gedächtnis hatte als seine Mutter und sein Bruder und viele Ereignisse anders bewertete. Mehrere Psychiater untersuchten, ob bei ihm eine psychische Störung vorlag und ob er schuldfähig war. Oft wurde schon im Vorfeld eine bestimmte Krankheit (z. B. Schizophrenie) vermutet. Dies beeinflusste die Deutung seines Verhaltens und seiner Motivation. Je nachdem, auf welche Informationen sich die Gutachter stützten, entstanden sehr unterschiedliche Persönlichkeitsbilder des Unabombers. Nicht einmal über die Fakten bestand Einigkeit, denn auch dazu gab es widersprüchliche Aussagen. Eine komplizierte Situation, mit der die Gerichte, spätere Biografen und Historiker auf der Suche nach der Wahrheit immer wieder zu kämpfen haben.

Auch die übrigen fünf Kapitel befassen sich mit ausgewählten Aspekten des Erinnerns:

  • Draaisma erzählt von Menschen, die vermuten, Kuckuckskinder zu sein. Mit der Gewissheit über ihre wahren Eltern verändert sich der Blick auf ihr bisheriges Familienleben.
  • Im Abstand von vierzig Jahren las der Autor zweimal die biblische Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Es war, als ob er eine völlig andere Geschichte lesen würde. An diesem persönlichen Beispiel zeigt Draaisma, wie sehr sich die Wahrnehmung eines vertrauten Textes durch die Lebenserfahrungen eines Menschen verändert.
  • In der Erinnerung wird die Jugendzeit oft verklärt als die schönste Zeit des Lebens voller intensiver Erlebnisse. Dies ist auf den Reminiszenzeffekt zurückzuführen, der sich bei älteren Menschen ab 60 Jahren verstärkt.
  • Draaisma stellt Überlegungen zur “Vergessenspille” Propranolol und anderen Betablockern an, die nach traumatischen Erlebnissen verabreicht werden können. Lassen sich Erinnerungen gezielt beeinflussen und ist das überhaupt sinnvoll?
  • Verschiedene Menschen erleben eine bestimmte Situation sehr unterschiedlich. So kommt es zum Rashomon-Effekt, der nach einem japanischen Kinofilm von 1950 benannt wurde: die Versionen widersprechen einander, so dass sich die objektive Wahrheit nicht ermitteln lässt.

Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit? Die gibt es nicht! Unsere Erinnerungen sind immer nur Halbe Wahrheiten, veränderbare Versionen dessen, was wirklich geschah. Davon zeugt dieses lesenswerte Buch mit seinen gut nachvollziehbaren Beispielen. Douwe Draaisma bringt uns dazu, den Wahrheitsgehalt der eigenen Erinnerungen infrage zu stellen.

Douwe Draaisma: Halbe Wahrheiten – Vom seltsamen Eigenleben unserer Erinnerung
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Galiani Verlag 2016, 256 Seiten
ISBN 978-3-86971-134-8
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8 Kommentare

  1. Interessant … und mit rosa Elefant :-)

  2. Ein super spannendes Thema, zu dem ich, in meiner Erinnerung, schon so einiges gelesen habe. Ich suchte in den Regalen…. und zog einen ganzen Stapel Bücher heraus, die ich noch lesen muss! Soviel zu meinem Gedächtnis und meiner Erinnerung!!

    • Bei mir stehen noch ein paar Bücher aus Uni-Zeiten herum. Die waren zwar längst nicht so unterhaltsam wie dieses, haben aber vor langer Zeit mein Interesse geweckt.

  3. Ein interessantes Thema.
    Rashomon ist mir ja auch ein Begriff. Dieser Film verweist ja “sehr schön” auf die grundsätzliche Schwierigkeit des Begriffs Objektivität.
    Ich selbst hatte auch mal ein durchdringendes Erlebnis mit Erinnerung:
    Als Kind sah ich mal einen Puppenfilm, in dem die Hauptfigur, eine Kartoffel, auf der Suche nach einem im Spiel verlorenen Ball in die Kanalisation herunterstieg und dort auf finstere Gestalten sties und gefangen genommen wurde. Dieser Film beeindruckte mich als KInd sehr. Vielleicht 20 Jahre später sah ich ihn wieder und er erwies sich als völlig anders aufgebaut!
    Selbiges ist mir auch mit einem Platz vor einer Kirche in Monreale (Sizilien) passiert. Ich hatte diesen Platz immer in Erinnerung. 12 Jahre später kam ich dort wieder hin und fand ihn ganz anders. Was aber das Sonderbare war: Nach diesem 2. Besuch blieb das erste Bild nachwievor haften. Ich erinnerte also das ursprüngliche Bild.
    Allerdings ist es jetzt mittlerweile verblasst.

    • Solche Erfahrungen habe ich auch schon gemacht. Manche Erinnerungen lassen sich offenbar nicht “überschreiben”. Beim Lesen dieses Buches sind mir viele Dinge wieder eingefallen, bei denen sich die Erinnerung an Filme oder Bücher verändert hat. Besonders verblüffend ist es, wenn ich mich mit meinem Bruder über Kindheitserlebnisse austausche. Da gibt es große Unterschiede, woran wir uns erinnern und wie wir die Dinge wahrgenommen haben.

      • Das was Du sagst, wirft auch ein schlechtes Licht auf die “Erinnerungsarbeit”, die man mit älteren Verwandten betreiben mag, wenn man etwas über die Vorgängergenerationen erfahren möchte.
        Ich hatte das mal versucht.
        Mein Onkel sagte etwa, daß sein Bruder, der Erstgeborene, der im Krieg als junger Mann fiel, sein bester Kumpel gewesen wäre. Doch altersmässig lagen sie weit auseinander und aus anderen Erzählungen meines Vaters und meiner Tante erfuhr ich, daß mein Vater diesem Erstgeborenen, der ihm etwa 4 Jahre vorausgegangen war, stark nacheiferte.
        Also weiß ich letztlich sehr wenig – und das von der Vorgängergeneration!

        • Ja, bei solchen Differenzen in den Erzählungen wird klar, dass es verschiedene Versionen der “Wahrheit” gibt. Jeder erzählt es so, wie er es erlebt und empfunden hat. Das muss man immer berücksichtigen.

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