Sebastian Jutzi: Der bewohnte Mensch

Cover Jutzi Bewohnte Mensch

© Heyne

Vor 3,8 Milliarden Jahren entwickelten sich auf der Erde die ersten einzelligen Lebewesen. Seit damals haben sich diese Mikroorganismen bzw. Mikroben kontinuierlich weiterentwickelt und vermehrt. Der menschliche Körper ist mit 100 Billionen von ihnen bevölkert. Die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die einen Körper bewohnen, nennt man Mikrobiom. Dies ist bei jedem Menschen individuell zusammengesetzt. Kaum zu fassen, aber mehr als 10.000 Arten kommen pro Mensch zusammen! Die Unterschiede von Mensch zu Mensch können so groß sein, dass der Biss eines Menschen für einen anderen Menschen potentiell tödlich ist!

Stefan Jutzi ist seit Jahresbeginn Chefredakteur der Zeitschrift natur. Schon in seiner Zeit als Wissenschaftsautor für die Zeitschrift Focus zählten die Themen Medizin und Ernährung zu seinen Schwerpunkten. In seinem neuen Buch Der bewohnte Mensch erklärt der Autor das komplizierte Wechselspiel zwischen nützlichen und schädlichen Mikroorganismen im Körper und gibt Ratschläge zur richtigen Lebensweise mit unseren Bewohnern.

Welche Mikroorganismen uns besiedeln, entscheidet sich schon bei der Geburt. Es spielt eine große Rolle, ob ein Baby durch natürliche Geburt oder durch einen Kaiserschnitt zur Welt kommt, da beim Geburtsvorgang viele Mikroben von der Mutter auf das Kind übertragen werden. Mit der Geburt beginnt durch diese Mikroben sogleich das Training für unser Immunsystem. Im weiteren Lebensverlauf spielen dann die genetischen Anlagen und die Ernährung eine wichtige Rolle.

Der Verdauungstrakt ist der am dichtesten besiedelte Bereich unseres Körpers. Dort wird die Nahrung, die wir zu uns nehmen, aufgespalten und in Energie umgewandelt. Jutzi beschreibt ausführlich, welche Faktoren eine gesunde Darmflora beeinflussen und was passiert, wenn Bakterien einen Angriff starten. Dann beginnen nämlich die Gegenmaßnahmen dort lebender Mikroben. Eine zu heftige Abwehr schwächt aber das Immunsystem und bietet ein Einfallstor für viele, nicht nur auf den Verdauungstrakt bezogene Krankheiten, wie zum Beispiel Allergien, aber auch Herz- und Kreislauferkrankungen. Den besten Schutz für das Gleichgewicht zwischen den Nützlingen und Schädlingen im Darm bietet eine ausgewogene Ernährung mit genügend Ballaststoffen und Verzicht auf zu viel Fette und Zucker.

Jutzi geht auf verschiedene Erkrankungen wie Diabetes, Morbus Crohn oder Darmkrebs ein. Mediziner versuchen Heilmittel und Präventionsmaßnahmen auf der Basis von Probiotika, also lebenden Bakterien, zu entwickeln, aber es ist sehr schwierig, gesicherte Daten zu erhalten. Handelt es sich lediglich um eine Korrelation oder liegt eine Kausalität vor? Dieses und andere Probleme bei der Deutung von Studienergebnissen werden von Jutzi sehr gut vermittelt. Ergebnisse aus Tierversuchen lassen sich nur begrenzt auf den Menschen übertragen, so dass es wohl noch viel Zeit braucht, um die Wirksamkeit der getesteten Maßnahmen am Menschen belegen zu können.
Da viele Mikroben noch unbekannt sind, werden sie seit 2007 durch das Human Microbiome Project systematisch erforscht. Die Mediziner hoffen mit genauer Kenntnis des Mikrobioms auf bessere Therapiemöglichkeiten für viele Krankheiten.

Auch die Haut ist dicht von Mikroorganismen bevölkert. Die Mikroben bilden einen natürlichen Säureschutzmantel, der Eindringlinge in Schach halten soll. Wenn die Balance der Hautflora gestört ist, können sich Hauterkrankungen wie Akne oder Fußpilz entwickeln. Die spezifische Zusammensetzung von Mikroben bestimmt den Geruch unseres Schweißes. Wenn wir jemanden nicht riechen können, liegt das also an dessen individuellem Mikrobencocktail. Ein faszinierendes Detail ist der erhebliche Unterschied zwischen rechter und linker Hand. Da wir unsere Hände unterschiedlich einsetzen, beträgt die Übereinstimmung gerade mal 17 %!

Ein spannendes und leider viel zu kurzes Kapitel widmet sich dem Zusammenspiel zwischen den Mikroorganismen und unserer Psyche. Offenbar werden wir regelrecht durch unser Mikrobiom manipuliert, auch unsere Gefühle, unser Wohlbefinden. Krankheiten wie Alzheimer, Schizophrenie und Depressionen stehen im Verdacht, dass sie durch Bakterien verursacht werden. Viele Zusammenhänge werden zwar vermutet, können aber noch nicht bewiesen werden.

Jutzi thematisiert auch die zunehmende Antibiotika-Resistenz vieler Krankheitserreger. Sie entsteht zum einen durch zu häufige ärztliche Verordnung und zum anderen durch die flächendeckende Verwendung von Antibiotika in der Landwirtschaft. Antibiotika vernichten nicht nur die schädlichen, sondern auch nützliche Keime. Außerdem wird es immer schwieriger, geeignete Antibiotika zu entdecken. Daher ist ein Umdenken dringend erforderlich.

Verblüffend ist für mich die Erkenntnis, dass es all die verschiedenen Bakterienstämme, z.B. Helicobacter pylori, Staphylococcus und Escherichia coli, jeweils in guten und in bösartigen Ausprägungen gibt. Die meisten Mikroorganismen nützen uns im Kampf gegen Krankheitskeime und stärken unser Immunsystem. Und die schädlichen können wir aktiv bekämpfen. Dieses Buch bietet dafür viele Anregungen. Es ist locker erzählt und lehrreich, manchmal ein bisschen belehrend. Insgesamt eine gute Mischung aus informativem Sachbuch und Gesundheitsratgeber.

Stefan Jutzi: Der bewohnte Mensch – Darm, Haut, Psyche – Besser leben mit Mikroben
Heyne Verlag 2014
ISBN 978-3-453-60307-3

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5 Kommentare

  1. Was die Wohn- und Lebensverhältnisse im Verdauungstrakt angeht, hat sich ja auch Enders in ihrem kurzweiligen Buch über den Darm ausgelassen, das ist also auch ganz interessant zu lesen unter diesem Gesichtspunkt (und wenn man über ein paar Schwächen des Buches hinwegsehen kann…)
    lg
    fs

  2. Deine bewundernswert ausführliche Rezension dazu habe ich sehr gern gelesen. Jutzi verwendet präzisere Formulierungen bei ebenso großer Sachkenntnis. Aber Enders ist es trotz Schwächen ja gelungen, die Menschen für das Thema zu begeistern – und das ist schon sehr viel wert. Diesem Buch wünsche ich auch so viele Leser.
    Liebe Grüße,
    Petra

  3. “Ratschläge zur richtigen Lebensweise mit unseren Bewohnern und “wenn wir jemanden nicht riechen können, liegt das also an dessen individuellem Mikrobencocktail” finde ich phantastisch formuliert! :-)

  4. Pingback:Wissensbuch des Jahres 2014 - Die Nominierungen – Elementares Lesen

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