Simon Garfield: Zeitfieber

Cover Garfield Zeitfieber

© Theiss

7 Stunden und 43 Minuten dauert die Lektüre des Buches Zeitfieber, verrät uns dessen Autor Simon Garfield. Ich habe die Zeit nicht gestoppt, doch es kam mir länger vor.
In Zeitfieber setzt sich Garfield mit unserem widersprüchlichen Verhältnis zur Zeit auseinander. Uhren sind allgegenwärtig und geben den Takt des Lebens vor. Wir messen und kontrollieren die Zeit, wir wollen keine Zeit verschwenden, und doch gibt es nie genug davon. Garfield hat einige Anekdoten aus der Geschichte der letzten 250 Jahre ausgewählt und beleuchtet die Zeit in der Kunst, in der Werbung oder im Sport. Die Zeit dient ihm als lose Klammer für allerlei skurrile Fundstücke, die sorgfältig recherchiert und durchaus interessant sind, in der Summe aber recht beliebig. Andere Aspekte vernachlässigt der Autor. So ist in seinem Buch leider nichts über die frühere Geschichte der Zeitmessung oder die physikalische Zeit zu erfahren.

Zeit vergeht für uns nicht immer in gleichem Tempo. Wir erleben die Zeit je nach Situation sehr unterschiedlich. Garfield berichtet vom gedehnten Erleben der Zeit, als er einen Fahrradunfall hatte oder wie die Zeit raste, während er einen zeitlich begrenzten Vortrag halten sollte. Er erzählt vom “verkorksten Kalender” der Franzosen während der Ersten Französischen Republik um 1800, als der Monat aus drei Wochen mit je zehn Tagen bestand. Auch das Zeitalter der Eisenbahn lässt Garfield aufleben. Um die Fahrpläne verschiedener britischer Eisenbahngesellschaften aufeinander abzustimmen, wurde die Vereinheitlichung der Uhrzeit notwendig. Der Fahrplan wurde erfunden und Londoner Zeit galt als Standard – damit hielt auch das “Konzept der Pünktlichkeit” Einzug in den Alltag.

Einen breiten Raum gibt Garfield dem Thema Zeit und Uhren im Kino. Er erinnert an die berühmte Filmszene in “Ausgerechnet Wolkenkratzer” mit Harold Lloyd, der hoch oben an den Zeigern einer Uhr hing, und andere ikonische Momente der Filmgeschichte. Das Kino ist für Garfield “offensichtlich gewordene Zeit”.
Auch in der Musik spielt Zeit eine wichtige Rolle. Wie schnell ein Musikstück gespielt wird, hängt nicht nur von den Vorgaben der Komponisten ab – die wurden schon oft ignoriert, damit das Werk auf eine Schallplatte und später auf eine CD passte. Veränderte Hörgewohnheiten führen zu einem anderen Timing.

Mit Entzücken las ich einige Abschnitte zur Kunst der Uhrmacherei. Da ich schon einige Uhrenmanufakturen in der Schweiz und im sächsischen Glashütte besichtigt habe, kam mir vieles vertraut vor. Garfield erzählt von komplizierten Uhren, die aus 659 Teilen bestehen, vom glänzenden Ruf der Schweizer Uhrenindustrie und der Baseler Uhrenmesse Baselworld, auf der Exklusivität zelebriert wird. Ein besonders skurriles Exponat: die Jurassic Watch, bei der das Zifferblatt aus dem etwa 150 Millionen Jahre alten Knochen eines Diplodocus gefertigt wurde. Der Preis dürfte astronomisch sein, denn die Uhr ist auf 12 Exemplare limitiert, wie ich auf der Seite des Herstellers erfahren habe.

Angesichts allgegenwärtiger Zeitmesser und digitaler Produkte wie dem Smartphone oder der Fitness Watch stellt sich die Frage, ob es in Zukunft überhaupt noch einen Bedarf für echte Uhren geben wird. Als Statussymbol dürften sie wohl noch einige Zeit überleben. Simon Garfield ist von besonderen Uhren fasziniert und schildert mit herrlicher Ironie, welche Werbebotschaften bei ihm und anderen Uhrenliebhabern funktionieren. In diesen Horologie-Kapiteln habe ich den historischen Teil besonders vermisst.

Tiefschürfende Betrachtungen über das Wesen der Zeit darf man in diesem Buch nicht erwarten. Garfield kommt zwar kurz auf das Paradox unserer hektischen Gegenwart zu sprechen: dass wir trotz vieler Möglichkeiten der Zeitersparnis ewig unter Zeitdruck stehen und das Gefühl haben, nicht Schritt halten zu können – aber da wird nichts analysiert oder hinterfragt. Stattdessen bietet der Autor süffig erzählte Reportagen, die leider oft in langatmige Erläuterungen und Abschweifungen ausufern. In den Fußnoten unter dem Text tobt sich neben dem Autor auch der Übersetzer aus, der Garfields Aussagen gern mal präzisiert oder korrigiert.

Fazit: Ein teilweise amüsantes und gescheites Buch, doch neben interessanten Episoden aus der Geschichte gab es viel Geplapper, wo sich die Zeit beim Lesen dehnte wie eine Lakritzschnecke. Mit seinem Buch Karten! zur Geschichte der Kartografie konnte mich der britische Journalist begeistern, doch Garfields Zeitfieber hat mich nicht gepackt.

Eine lesenswerte Buchvorstellung findet Ihr auch bei Flattersatz!

Simon Garfield: Zeitfieber – Warum die Stunde nicht überall gleich schlägt, die innere Uhr täuschen kann und Beethoven aus dem Takt gerät
Aus dem Englischen von Jörg Fündling
Theiss Verlag 2017, 375 Seiten
ISBN 978-3-8062-3443-5

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7 Kommentare

  1. Das ist ja witzig. Ich lese auch gerade Zeitfieber und kann Dir in allen Punkten zustimmen (zumindest bis zum Gelesenen). Ich hatte zeitgleich Karten und Zeitfieber auf meinem Tisch liegen und bin mit zweiteren angefangen… Gott sei Dank, denn dann habe ich ja noch eine Steigerung vor mir und Garfield noch eine zweite Chance!
    Ich habe schon andere Bücher über die Zeit gelesen, die zwar trockener, aber auch informativer waren. Somit sehe ich dieses Buch eher als amüsantes Extra.

    • Auf das Karten-Buch kannst du dich wirklich freuen! Beim Zeitfieber hängt der Spaßfaktor davon ab, ob man sich für die Themen der zahlreichen Ausschmückungen und Abschweifungen interessiert. So konnte ich mich nicht für die Vorgeschichte des erwähnten Films begeistern. Für Freunde der Stummfilmzeit mag das anders aussehen. Insgesamt war die Lektüre ja keine Zeitverschwendung. Der lockere Stil trägt über manche Längen hinweg.
      Was kannst du denn zum Thema Zeit empfehlen?

      • Mein erstes “bewusstes” Buch über die Zeit war “Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen” von Robert Levine. Es hat mich damals sehr beeindruckt und es hat mir die Zeit als eingenständiges Thema erst präsent gemacht.
        Bisher habe ich zwar immer mal wieder etwas über die Zeit gelesen, hauptsächlich Philosophisches und Psychologisches, aber nichts besseres gefunden.

        • Mir begegnet das Thema Zeit immer wieder in astronomischen Büchern: Urknall als Beginn der Zeit, oder die Raumzeit in der Physik. Diese Aspekte fehlen ja in Garfields Buch. Spannend finde ich auch den psychologischen Aspekt, wie wir das Vergehen der Zeit wahrnehmen. Das Buch von Levine klingt jedenfalls sehr interessant, danke für den Tipp!

  2. Freut mich, daß Du eher kritisch bist.
    Ich kenne das Buch nicht, aber das Thema “Zeit” taucht ja immer wieder in den Wissenschaften auf.
    “Wie Zeit entstand”, das wäre so ein Thema, das mich interessieren würde. Daß sich da ein Raum aufblähte und mit ihm die Zeit, das befriedigt nicht. Aber ich bin dem noch nicht dediziert nachgegangen.
    Wie sagte Rolf Dobelli in der NZZ sinngemäss: Wir geben unsere Meinung nur allzu schnell preis, ohne wirklich etwas zu wissen.

  3. Liebe Petra, ich habe meinem Liebsten mal vor einiger Zeit “Just my Type” von Garfield geschenkt, das hat ihm sehr gut gefallen. (Ich muss es irgendwann noch lesen.) Vielleicht wäre das ja auch noch was für dich?
    Liebe Grüße
    Petra

    • Vielen Dank für den Tipp! Ein Buch über Schriften, das klingt perfekt! Es steht bereits auf meiner Wunschliste :-)
      Liebe Grüße, Petra

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