Erik Orsenna: Auf der Spur des Papiers – Eine Liebeserklärung

Cover Orsenna Spur des Papiers

© C. H. Beck

Papier ist der Stoff, auf dem das Wissen der Welt festgehalten wird. Doch Papier ist nicht nur ein Wissensspeicher, sondern ein vielseitig einsetzbares Produkt, dessen Ausgangsmaterial sich im Laufe der Zeit gewandelt hat: früher wurden Tierhäute, zerkleinerte Pflanzenfasern oder Lumpen für die Papierherstellung benutzt. Erst im 8. Jahrhundert begann man mit der Verwendung von Holz. Erik Orsenna, der französische Romancier und Reiseschriftsteller, hat sich auf eine abenteuerliche Reise rund um die Welt begeben, um den verschiedenen Aspekten dieses Materials nachzugehen, von seiner Erfindung und seiner Verarbeitung bis zur Suche nach dem perfekten, weichen Toilettenpapier und der Kunst, fälschungssichere Banknoten herzustellen.

Dieses Buch ist aus vielen kleinen Episoden zusammengesetzt und beginnt im Ursprungsland des Papiers, in China. Dort wurde das Papier vor über 2.000 Jahren erfunden. Zunächst verbreitete es sich im arabischen Raum, wo Papier verwendet wurde, um religiöse Texte aufzuschreiben, Enzyklopädien zu erstellen und Dokumente besser vor Manipulation zu schützen. Erst im späten Mittelalter gelangte das Papier auch nach Europa, wo es sich bald gegen das bisher verwendete Pergament durchsetzen konnte. An vielen Flüssen, beginnend in Italien, wurden die Mühlen im Winter, wenn sie nicht zur Herstellung von Mehl und Öl gebraucht wurden, zur Papierherstellung umfunktioniert. So konnte das Flusswasser gleichzeitig als Energieträger und Rohstoff dienen, um aus Holzfasern einen Brei zu kochen, der in getrockneter Form Papier ergab.

In China wurde ursprünglich auf Seide geschrieben, daher beginnt Orsenna seine Reise auf der Seidenstraße. Vom alten Charme dieser Handelsroute ist nichts mehr übrig geblieben, daher verdient sie für Orsenna eher Namen wie die „Straße der angegriffenen Schleimhäute“. Er hat endlose Wüsten und erschreckende Orte vorgefunden wie die „schadstoffbelastetste Stadt der Welt“ und die „Hauptstadt der Trostlosigkeit“, aber auch ein wunderbares Papiermuseum mit kostbaren Manuskripten und Kleidung aus Papier.

Papierhersteller waren nicht nur innovativ in der Verfeinerung ihrer Produktionsmethoden. Eine spannende Episode ist die Geschichte der Familie Montgolfier, denn sie war nicht nur Betreiberin von Papierfabriken über mehrere Generationen – die Brüder Montgolfier bauten sogar ihre Ballons aus Leinwand, die mit Papier gefüttert war. In so einer Montgolfière startete 1783 der erste Ballonflug mit Menschen an Bord.

Beim Besuch der Bibliothèque Nationale in Paris lässt Orsenna uns seine Ehrfurcht spüren, als er das letzte Manuskript, das Marcel Proust kurz vor seinem Tod verfasst hat, in Händen halten darf. Diese Schilderung verursacht Gänsehaut beim Lesen!

In Japan hat Orsenna sich das Dorf Echizen angesehen, in dem heute noch handgeschöpfte Papiere hergestellt werden – ein mühevoller, langsamer Prozess, bei dem besonders kostbare und schöne Papiere entstehen. Ein alter Meister auf diesem Gebiet, den Orsenna dort besucht, gilt in Japan als „Lebender Kulturschatz“. Mit dieser Bezeichnung wird der Wert dieser Kulturtechnik in Japan besonders gewürdigt.

diverse Papierprodukte

Papier Papier Papier

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Fertigungsmethoden stark verändert. Während früher die Handarbeit überwog, begann im 18. Jahrhundert die industrielle Fertigung und Verarbeitung von Papier. Orsenna hat diverse Papierfabriken in Indien und Russland besichtigt, ist aber auch dem Rohstoff Holz bis zu den Flößern nach Kanada gefolgt und hat sich über die Gefahren dieses Berufs informiert.

Beim Besuch eines Sägewerks in Schweden erfahren wir, dass ausgerechnet der Möbelhersteller IKEA trotz großer Waldbestände kein heimisches Holz verwendet, sondern Holz aus Billiglohnländern. Der globale Konkurrenzkampf der holzverarbeitenden Industrie ist hart. Auch die daraus resultierende gigantische Umweltverschmutzung nimmt Orsenna in den Blick: die Vernichtung tropischer Regenwälder, Verschmutzung von Flüssen nahe den Papierfabriken, Vernichtung der Artenvielfalt durch Anpflanzung von Monokulturen.

Er lernt in Brasilien aber auch etwas über den schnell wachsenden Eukalyptus, der schonender für den Boden ist und nicht mehr Wasser verbraucht als andere Holzarten. Im Kampf gegen hohe Kosten und zunehmenden Rohstoffmangel wird das Recycling von Papier immer wichtiger. In einer französischen Recycling-Anlage erfährt Orsenna, dass es über 80 Kategorien von Papier gibt, die von Hand vorsortiert werden müssen.

Es ist hochinteressant, von all diesen Kreisläufen zu erfahren und die vielen Facetten des Papiers kennen zu lernen. Die Beschreibung kostbarer alter Papiere nimmt in diesem Buch ebenso viel Raum ein wie die vielfältigen Arbeitsabläufe in unserer hektischen Gegenwart. Als Leser schauen wir Orsenna bei all seinen Begegnungen und Impressionen über die Schulter und lernen so gemeinsam mit ihm die Geheimnisse des Papiers kennen.

Orsennas Plaudereien sind von einem altmodischen Charme. Gelegentlich störte mich die penetrante Erwähnung seiner früheren Werke, für die er ebenfalls viele Reisen unternommen hat. Aber Orsenna ist nun mal ein erfolgreicher Schriftsteller, der mit vielen Preisen wie dem Prix Goncourt oder dem Lettre Ulysses Award ausgezeichnet wurde. Sein persönlicher Ton, der Hang zur Selbstironie und seine Begeisterung für das Thema machen das Selbstlob wieder wett.

Am Ende dieser Reise ist deutlich geworden, warum Papier ein ganz besonderer Stoff ist, nicht nur für einen Schriftsteller, sondern auch für den staunenden Leser. Papier hat unseren Respekt und unsere Wertschätzung verdient.

Erik Orsenna: Auf der Spur des Papiers – Eine Liebeserklärung
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann
Verlag C.H. Beck 2014
ISBN 978-3-406-44093-1
Leseprobe

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4 Kommentare

  1. Hallo Petra,

    ich komme leider erst jetzt dazu, Deine tolle Vorstellung zu diesem Buch zu lesen. Du hast mich neugierig gemacht und ich habe mich daran erinnert, dass ich oft die Seiten eines Buches bereibe oder daran schnüffele… oder mich ärgere, wenn die Papierqualität besonders schlecht ist.
    Auf jeden Fall ist es höchste Zeit, mich mit diesem Thema näher zu beschäftigen! Vielen Dank für Deine Worte!

  2. Eine sehr schöne Besprechung, auf die ich erst durch Deinen Kommentar auf meine Buchvorstellung in DruckSchrift (http://druckschrift.wordpress.com/2014/07/05/erik-orsenna-auf-der-spur-des-papiers/) aufmerksam geworden bin. Ich sehe, wir stimmen in der Einschätzung überein. Schön.

  3. Es ist immer wieder spannend, zu vergleichen, was andere Blogs in ihren Rezensionen herausarbeiten. Deine Buchvorstellung mir jedenfalls sehr gut gefallen.

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