Fred Pearce: Die neuen Wilden

Der sinnlose Kampf gegen invasive Arten im 21. Jahrhundert

Cover Pearce Neuen Wilden

© oekom

Invasive Arten zerstören die Natur, heißt es. Naturschützer halten daher den Kampf gegen fremde Tier- und Pflanzenarten für gerechtfertigt. Doch ist das auch angemessen? Der britische Umweltjournalist Fred Pearce war einst selbst ein überzeugter Gegner sogenannter invasiver Arten. Im Laufe seiner langjährigen Recherchen hat er seine Meinung geändert. Heute plädiert er dafür, fremde Arten nicht als Gefahr, sondern als Bereicherung für die heimische Natur zu betrachten. In seinem aktuellen Buch Die neuen Wilden erklärt er, wie sie in Zeiten des Klimawandels sogar zur Rettung der Natur beitragen können.

Ab wann gilt eine fremde Art als invasiv, als Gefahr für ein Ökosystem? Darüber herrscht keine Einigkeit. Das Missverständnis, das Pearce beklagt, beginnt schon mit dem Irrglauben, dass Ökosysteme perfekt austarierte, in sich geschlossene Systeme seien, die man konservieren sollte. Doch es gibt keine perfekte Balance in der Natur, keinen harmonischen Endzustand und auch nicht immer klare Grenzen! Jedes Ökosystem ist im Fluss, ein ständiger Wechsel der Arten ist also normal. Die Unterteilung in heimische und fremde Arten ist oft nicht eindeutig, denn viele als heimisch geltende Arten kamen ursprünglich aus fernen Regionen, sind aber bestens integriert. Unnatürlich findet Pearce den Versuch, ein Ökosystem in einen früheren Zustand zurückzuversetzen.

Er beschreibt die vielen Verbreitungswege von Tier- und Pflanzenarten. Neben den natürlichen Wanderungen, Luft- und Wasserwegen hat der Mensch schon vor langer Zeit eingegriffen und Arten absichtlich oder versehentlich über die Kontinente transportiert. Botaniker und Gärtner tragen seit Jahrhunderten zu einer Ausbreitung gebietsfremder Pflanzen bei. Heutzutage können viele Arten in den Ballasttanks der Frachtschiffe gewaltige Entfernungen überwinden. Und manchmal werden sie zum Problem.

Ausführlich geht Pearce auf die Katastrophen der letzten Jahrhunderte durch importierte Arten ein. Viele können sich vor allem in Ökosystemen durchsetzen, die durch menschliche Eingriffe bereits geschwächt sind, zum Beispiel durch Überdüngung des Bodens oder Umweltverschmutzung. Die meisten gebietsfremden Arten richten keinen Schaden an. Viele überleben nicht in einer neuen Umgebung. Andere integrieren sich und tragen sogar zur Erhöhung der Biodiversität bei. Pearce betont den Nutzen fremder Arten, die sich in alten Industriebrachen ansiedeln und dort die zurück gebliebenen Schadstoffe zersetzen. Er berichtet von der Dickstieligen Wasserhyazinthe aus dem Amazonas, die als beliebte Teich-Zierpflanze weltweit eingeführt wurde. Unter bestimmten Bedingungen breitete sie sich plötzlich aus und galt als invasiv, da sie Schifffahrtswege und Gewässer verstopfte. Inzwischen weiß man, dass sie Schwermetalle und andere Schadstoffe aus dem Wasser filtern kann. Wo die Schadstoffe zurückgehen, zieht sich auch die Wasserhyazinthe zurück. Ähnliches gilt für die “Killeralge” Caulerpa. Pearce verdeutlicht, wie Ursache und Wirkung verwechselt werden und eine vermeintlich invasive Art zum Buhmann für eine von Menschen verschmutzte Umwelt gemacht wird.

Bei seinen umfangreichen Recherchen sprach der Autor mit Biologen, Umweltschützern und Mitarbeitern verschiedener Naturschutz-Behörden. Er pflückte Studien zu invasiven Arten auseinander, analysierte sie auf Widersprüche – und wurde immer wieder fündig. So wurden Kosten für die Schäden und Bekämpfungsmaßnahmen künstlich hochgerechnet oder die Untersuchungsergebnisse aus der Inselforschung auf das Festland übertragen. Besonders kritisch sieht Pearce den Zweig der Invasionsbiologie. Hier werde “wissenschaftliche Mythenbildung” betrieben.

Pearce legt eine Fülle von Beispielen für die fatalen Konsequenzen der Bekämpfung invasiver Arten vor. Viele Eingriffe werden mit Gift geführt und haben katastrophale Folgen auch für andere Arten. Der hohe Aufwand steht teils in keinem Verhältnis zum Nutzen solcher Aktionen. Pearce berichtet von der aus Nordamerika nach Großbritannien importierten Schwarzkopfruderente. Da sie schon bald die Artenreinheit der vom Aussterben bedrohten Weißkopfruderente in ganz Europa gefährdete, hat man versucht, sie auszurotten – vergeblich. Heute gilt sie als widerstandsfähige Art, die dem Klimawandel im Gegensatz zur Weißkopfruderente gewachsen ist.

Fred Pearce bietet reichlich Diskussionsstoff mit seinem kritischen Blick auf den Naturschutz und auch den Umgang der Politik mit gebietsfremden Arten. Er fordert, dass wir eine neue Wildnis zulassen und das Potential gebietsfremder Arten vor dem Hintergrund des Klimawandels neu bewerten. Sein Buch ist eine teils polemische Abrechnung mit rückwärtsgewandten Naturschützern und Invasionsbiologen. Der Zoologe und Sachbuchautor Josef H. Reichholf unterstützt ihn in seinem Vorwort und fordert die Lösung von alten Dogmen im Naturschutz. Die neuen Wilden ist ein aufrüttelndes Buch mit vielen spannenden Beispielen, verständlich formuliert und nachvollziehbar argumentiert.

Nachtrag: Wissensbuch des Jahres 2016 in der Kategorie Zündstoff

Fred Pearce: Die neuen Wilden – Wie es mit fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten
Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Barbara Steckhan
oekom verlag 2016, 320 Seiten
ISBN 978-3-86581-768-6
Leseprobe

Rezension für bild der wissenschaft und wissenschaft.de

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19 Kommentare

  1. Pingback:Vorfreuden für Leseratten I Frühjahr 2016 – Elementares Lesen

  2. Das Buch wird sich bei mir wohlfühlen, auch wenn die Gedankengänge invasiv sind und einen neuen Ansatz des Denkens verlangen. Es ist aber zwingend notwendig. Der “Naturschutz” muss sich auf neue Gegebenheiten einstellen oder will er weiterhin sein alten Pfründe (welche Natur, zu welchem Zeitpunkt?) mit Allmacht verteidigen.

    • Es ist wirklich ungewohnt, sich auf diese Gedanken einzulassen, aber sie sind gut begründet. Naturschützer werden nicht über einen Kamm geschoren.

  3. Das hört sich wirklich sehr interessant an! Einen Fauna- und Florawandel hat es schließlich zu allen Zeiten gegeben, nur wahrscheinlich nicht so schnell wie heute.

  4. Invasion ist Evolution mittels Außeneinwirkung. Deine Besprechung dazu liest sich sehr spannend und wieder wurde mein SuB unterwandert. Danke!

    • Gern geschehen! Interessant fand ich, dass Ökosysteme nicht nur durch Jahrtausende lange Koevolution verschiedener Organismen funktionieren, sondern sich auch kurzfristig durch künstliche Mischung entwickeln können.

  5. Ich habe auch schon eine andere Rezension, ich glaube im Economist, gelesen. Obwohl ich es schwierig finde, meine Zweifel an dieser These komplett zu überwinden, weil ich glaube, dass man situationsabhängig entscheiden müsste, klingt das sehr interessant – vielleicht gerade, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich dieser Argumentation in vollem Umfang folgen würde.

    • Es lohnt auf jeden Fall, sich auf diese ungewohnte Perspektive einzulassen. Pearce hat wirklich gute Argumente zusammengetragen. Aber er behauptet nicht, dass man jede gebietsfremde Art einfach machen lassen soll.

  6. Ich weiß nicht recht, wie ich dazu stehen soll.
    Vor 1, 2 Jahren sah ich einen eindrucksvollen Beitrag über die kleine, rote argentinische Ameise, die sich brachial und rücksichtslos verbreitet. Selbst kleinere Säugetiere fliehen aus den Gebieten, wo sie dominieren.
    Andere Horrormeldungen zu Problemen in der Fauna kommen mir auch ins Gedächtnis. Ich denke, daß der Zusammenprall von Arten heutzutage viel heftiger, zahlreicher und kruder ist wie einst. Das wäre zumindest eine logische Sicht.

    • Das Beispiel mit der Argentinischen Ameise taucht auch im Buch auf. Solche Auswüchse sind erschreckend! Doch es gibt laut Pearce schon Beispiele für einen plötzlichen Rückgang solcher Superkolonien. Bisher können sich Wissenschaftler nicht erklären warum. Da gibt es noch viel Forschungsbedarf – und Hoffnung.

      • Danke für die Antwort!

        Das Buch würde mich schon interessieren, weil es mit meinem Interessensgebiet zu tun hat! Bloß ist mein Lesetempo recht gering. So kann es schon mal einen Monat dauern, bis ich ein Sachbuch durch habe. Zuletzt las ich mit Gewinn “Survival of the fittest”, dann ein Buch von Doidge zu Neuroplastizität.
        Ich stelle fest, daß ich hier einigen Hunger habe, aber blöderweise abwägen muß, was als Nächstes kommt.

        • Den Konflikt kann ich gut nachvollziehen. Für Sachbücher braucht es einfach mehr Konzentration. “Survival of the fittest” habe ich trotz großen Interesses noch nicht geschafft (steht im Regal der ungelesenen Sachbücher).

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  8. Das Problem kennt man aus der Imkerei. Invasive Arten wie das Indische Springkraut, das tatsächlich durch seine schnelle Verbreitung heimische Flora schlichtweg überwuchert, sind für die Imker ein Segen, vor allem dort, wo das Nahrungsangebot für Bienen und Wildbienen im Herbst dünn wird.

    Anders verhält sich die Bienenbedrohung durch Varroa. Die Biene ist das Schlüsselinsekt für Biodiversität. Wenn sie weiter durch invasive Arten unter Druck gerät, dann werden die Folgen für die Gesamtnatur katastrophal sein. Und hier gilt: je kleiner umso gefährlicher. Die Bedrohungen durch Viren und Parasiten, gegen die heimische Spezies keine Abwehrstrategien entwickelt haben, ist real.

    Wen es interessiert: Ich habe in meinem Blog “Von Menschen und Bienen” zu dieser Problematik einen Beitrag geschrieben mit dem Titel: Wieviel Globalisierung verträgt die Honigbiene? https://goo.gl/sX3mT8

    • Vielen Dank für den Hinweis auf diesen ausführlichen Artikel! Da kann ich mich nochmal eingehend über die Gefahren für die unterschiedlichen Bienenarten informieren. Das Beispiel mit dem Springkraut findet sich übrigens auch in Pearce´ Buch. Hier hat sich eine invasive Art als nützlich erwiesen. Bei Parasiten wie der Varroa-Milbe sieht es sicher schlecht aus!

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