Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen

Cover Behrend Menschwerdung eines Affen

© Matthes & Seitz

Wie gelingt es, eine fremde Kultur zu verstehen und ein Teil davon zu werden? Wann beherrscht man die ungeschriebenen Regeln? Und wie deutet man seine Beobachtungen in der Fremde? Fragen, die Heike Behrend oft bewegten. Die Ethnologin und Religionswissenschaftlerin bereiste den afrikanischen Kontinent während der letzten 50 Jahre immer wieder, um Feldforschung zu betreiben. In ihrem autobiografischen Buch Menschwerdung eines Affen erzählt sie von vier Projekten in Kenia und Uganda und wirft einen selbstkritischen Blick auf ihre Arbeit. Das Buch ist nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 und wurde mir als Patenbuch per Los zugeteilt, denn ich beteilige mich, zusammen mit sieben weiteren Blogs, am Sachbuchpreisbloggen. Ein echter Glücksgriff, denn diese Kombination aus praktischer Forschung und Autobiografie spricht mich sehr an!

Status bei den Tugen in Kenia: Affe

Als erstes verblüfft mich, dass Heike Behrend auf ihrer ersten Reise in die Tugenberge von Kenia ihren 7-jährigen Sohn mitnimmt. Teilnehmende Beobachtung in der Sozialforschung – darunter hatte ich mir eine möglichst unauffällige Beteiligung am Alltag der Menschen vorgestellt – mit einem Kind kaum möglich. Doch Behrends Sohn integriert sich schneller als die Forscherin und öffnet ihr so manche Tür bei den Tugen.

Heike Behrend fällt auf in dem abgelegenen Dorf, mit ihrer bleichen Haut, dem dünnen Körper, ihrer hektischen Art. Immer wieder verstößt sie gegen die Höflichkeitsregeln und ist viel zu neugierig. Man verpasst ihr den Spottnamen Affe, ein Wesen unterhalb der menschlichen Existenz. Im Laufe der Zeit steigt sie auf zum Ding und zur kleinen Person. Sie wird sogar in einen der Clans aufgenommen und darf an manchen Ritualen teilnehmen. Doch bleibt sie eine lächerliche Figur, die man nicht ernst nimmt, die immer wieder ausgelacht wird. Eine tiefe Verunsicherung ist die Folge. Und Heike Behrend stellt fest: Es steckt noch mehr dahinter. Mit dem Namen Affe revanchieren sich die Tugen auch für die Zuschreibungen, die sie während der Kolonialzeit erlebten: als primitiv und minderwertig.

Im Norden Ugandas: von Misstrauen begleitet

Im Norden Ugandas taucht die Forscherin tief ein in eine Sphäre des Okkultismus und Geisterglaubens. In einem ehemaligen Kriegsgebiet erforscht sie die Holy-Spirit-Bewegung, spricht mit Ex-Soldaten, die den Kampf gegen die Regierung verloren haben, und mit studierten Gesprächspartnern, die ihr keine unbefangene Sicht auf den Krieg liefern, sondern eine bestimmte Perspektive auf sich und das Kriegsgeschehen vermitteln wollen. Immer wieder taucht das Problem von Nähe und Distanz auf, denn eine Abgrenzung zu den Objekten ihrer Forschung fällt schwer. Im Gegenzug wird Behrend selbst zum Objekt und kritisch beobachtet. Ein tiefes Misstrauen der Menschen, das noch aus der Kolonialzeit herrührt, belastet die Beziehungen.

Ungläubige und Kannibalin: Scheitern im Westen Ugandas

Auch bei ihrem Projekt über die katholische Kirche im Westen Ugandas gibt es Probleme, die auf die Kolonialherrschaft zurückgehen. Indem damalige Ethnologen sich auf afrikanische Traditionen und Bräuche konzentrierten und andere Aspekte der Kulturen ignorierten, verfestigten sie die Vorurteile über eine Gesellschaft, die als vormodern und fremdartig galt. Der Versuch, westliche Rationalität durchzusetzen, schreibt Behrend, befeuerte erst das »Erstarken von Religion, Geistern, Magie und Hexerei«. Mit diesen Phänomenen hat die Forscherin nun schwer zu kämpfen. Schockiert vom Kampf der Kirche gegen vermeintliche Hexerei und Kannibalismus, ist sie unfähig, einen objektiven Blick zu bewahren. Viel zu groß ist ihr Entsetzen über die Hexenjagden durch die Kirche. Und wieder belastet der Blick der Beobachteten auf die Beobachterin. Behrend stößt die Menschen durch ihren mangelnden Glauben vor den Kopf, wodurch es ihr schwerfällt, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Sie wird sogar selbst verdächtigt, eine Kannibalin zu sein. Dieses Projekt betrachtet sie als gescheitert.

Ostafrikanische Küste: Medienanthropologie als neuer Forschungszweig

In Kolonialzeiten galt die Fotografie als Herrschaftsinstrument, zum Sammeln von Informationen und Beweismitteln über die Bewohner Afrikas. Kein Wunder, dass ein Projekt über die fotografische Praxis der Gegenwart Skepsis hervorruft. Heike Behrend beschreibt die Schwierigkeiten, die ihr begegnen und sie daran hindern, selbst Fotos zu machen. Statt dessen kauft sie nicht abgeholte Aufnahmen in Fotostudios und erarbeitet neue Methoden der Ethnografie. So wird Behrend zur Mitbegründerin eines neuen Forschungszweigs: der Medienanthropologie. Als Zeichen der Freundschaft lässt sie sich von Straßenfotografen aufnehmen und macht deren Arbeit zu einem Teil ihres Projekts. Sie verhilft ihnen zu Ausstellungen in Europa, um ihre Arbeiten dort bekannt zu machen. Bei Besuchen in Europa sind die Künstler abgestoßen von der westlichen Ästhetik, dem offenen Umgang mit Nacktheit und dem Willen europäischer Fotografen zu schockieren. In ihrer Kultur zeigen sie lieber das Schöne, das Idealbild einer heilen Welt.

Eine intellektuelle Autobiografie

In ihrer intellektuellen Autobiografie Menschwerdung eines Affen schildert die Ethnologin Heike Behrend lebendig und offen ihre Erfahrungen als Fremde und Forscherin, mit all den Fehlern, die sie beging, den Fehlinterpretationen auf beiden Seiten, aber auch mit der Möglichkeit, einander anzunehmen – im Auge der Anderen Mensch zu werden. Sie skizziert die politischen Verhältnisse, unter denen sie arbeitete, die gegenseitigen Missverständnisse, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit haben, und die Veränderungen der Ethnologie während der letzten 50 Jahre. Eine eindringliche und sehr anregende Lektüre, die Fragen aufwirft: Wie geht man mit den eigenen und fremden Vorurteilen um? Wie kann es gelingen, Fremde, die die eigene Kultur nicht verstehen, in die Gesellschaft aufzunehmen? Wichtige Fragen, denn Fremdsein ist eine globale Erfahrung, der sich viele Menschen, oft unfreiwillig, aussetzen.

Kürzlich wurde das Buch ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2021 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Und am 14. Juni um 18:00 Uhr beginnt die Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises. Ich drücke meinem Patenbuch die Daumen!!!

Nominiert als Wissensbuch des Jahres 2020/21 in der Kategorie ÜBERRASCHUNG

Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen – Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung
Verlag Matthes & Seitz Berlin 2020, 278 Seiten
ISBN 978-3-95757-955-3
Leseprobe

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5 Kommentare

  1. Das klingt sehr interessant, könnte mich begeistern.

    “Veränderungen der Ethnologie während der letzten 50 Jahre”:
    Mir ist ein Foto in Erinnerung, in der ein SS-Mann den Kopf einer Tibeterin vermisst, in der Annahme, die Kopfform würde einen Rückschluss auf die Eigenschaften der Kopfträgerin erlauben.

  2. Ich habe jetzt das Vorwort gelesen.
    Da steht:

    Gerade die Akzeptanz,
    das Sich-Einlassen auf Kollisionen und deren Reflexion, erwies
    sich als äußerst produktiv und eröffnete Felder des Wissens, die
    ich mir zu Hause nicht hätte ausdenken können. Das heißt aber
    auch, dass ich ein Anderes postuliere, das in der Beziehung zum
    Eigenen nicht aufgeht. Es gibt ein Außen, das über die narzisstische Spiegelung des Eigenen im Fremden hinausweist und den
    Kreis der Selbstreflexion durchbricht.

    Hier hätte ich geschrieben:
    Das heißt aber
    auch, dass ich ein Anderes, Fremdes , das in der Beziehung zum
    Eigenen nicht aufgeht, postuliere.

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