John Glassie: Der letzte Mann, der alles wusste

Cover Glassie Mann

© Berlin

Einer der großen Universalgelehrten des 17. Jahrhunderts war der Jesuitenpater Athanasius Kircher. Doch im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Leibniz, Newton oder Descartes geriet er bald in Vergessenheit und wird erst seit kurzem als Vorreiter vieler Erkenntnisse wiederentdeckt. Der Journalist John Glassie widmet ihm seine Biografie Der letzte Mann, der alles wusste.

1602 wurde Kircher in der Nähe von Fulda geboren und an einer Jesuitenschule unterrichtet. Nach seiner Priesterweihe reiste er im Auftrag des Ordens durch verschiedene Länder Europas, bis er schließlich am Collegium Romanum in Rom seine Wirkungsstätte fand. Schon bald wurde er für sein umfassendes Wissen geschätzt und hofiert. Um sich der Forschung und Veröffentlichung seiner Erkenntnisse widmen zu können, befreite man ihn von seinem Lehrauftrag für Mathematik.

Kircher interessierte sich für Astronomie, Musik, Geologie, Medizin, die Länder Asiens und vieles mehr. Er untersuchte das Phänomen des Magnetismus und war der Überzeugung, dass der Magnetismus der Sonne für die Erdrotation und das Wachstum der Pflanzen verantwortlich sei. Als erster entdeckte er durch Benutzung eines Mikroskops “Würmer” im Blut von Pestkranken, die er als Krankheitserreger ausmachte.

Dank seiner Sprachbegabung eignete er sich schnell mehrere europäische und orientalische Sprachen an: neben Latein beherrschte er Griechisch, Hebräisch, Arabisch, Aramäisch und auch viele Dialekte. Zeit seines Lebens versuchte er vergeblich die Hieroglyphen zu entschlüsseln.

Mehr als 30 opulent illustrierte Werke zu diversen Wissensgebieten entstanden als Resultat seiner permanenten Forschungstätigkeit. Die bedeutendsten werden in diesem Buch vorgestellt. Da Kircher als Kapazität für viele Themen galt, waren seine Bücher überaus erfolgreich in ganz Europa. Doch schon zu Lebzeiten wurden viele seiner Erkenntnisse angezweifelt und widerlegt. Leibniz verehrte ihn als junger Mann, doch später kritisierte und verspottete er Kircher. Descartes hielt ihn für einen Quacksalber. Die neu gegründete Royal Society in London setzte sich intensiv mit Kirchers Werken auseinander. Seine Experimente dienten als Inspiration, ließen sich aber oft nicht wiederholen, so dass auch dort sein exzellenter Ruf an Glaubwürdigkeit verlor. Am Ende seines Lebens war Kirchers Ansehen so stark gesunken, dass er es mit seiner Selbstbiographie zu retten versuchte, allerdings vergeblich.

Was ihn auszeichnete, war seine grenzenlose Neugier, der Versuch alles verstehen zu wollen und mit Experimenten zu durchdringen. Seine Interpretationen versuchte er mit seinem Glauben und den kirchlichen Vorgaben in Einklang zu bringen.

Ein spannendes Leben, aber ist daraus auch eine spannende Biografie entstanden? Nicht ganz. Ich stand mehrfach kurz vor dem Abbruch der Lektüre. Das liegt vor allem an den zahlreichen Zitaten aus Kirchers Selbstbiographie, die Glassie aneinander montiert. Vieles wurde aus der Autobiografie allzu brav nacherzählt. Da hätte ich mir ein lebendigeres Porträt in eigenen Worten gewünscht. Besonders gelangweilt haben mich die vielen Episoden, in denen Kircher nur durch seinen Glauben an Gott aus tödlicher Gefahr gerettet wurde. Nach dem 3. Mal dachte ich: nicht schon wieder! Nach der 6. wundersamen Rettung hatte ich eine Weile genug von diesem Buch. Da hätte der Autor sich beschränken und stattdessen ausführlicher erklären sollen, wie Kircher zu seinen Entdeckungen kam. Dieser Aspekt blieb leider oft zu vage.

Aber irgendwas hat mich motiviert, trotzdem weiter zu lesen. Die Epoche wird lebendig geschildert: der Umbruch im wissenschaftlichen Denken durch neue Erkenntnisse, Rationalität statt blinder Glaube, die Unbilden des 30jährigen Kriegs, das kulturelle Leben in Rom zwischen Mäzenen und Päpsten, die Pest und deren Erforschung; die Aufklärung warf ihre Schatten voraus.

Am Ende der Lektüre kann ich mir ein recht gutes Bild von Kircher und seiner Zeit machen. Er war von ähnlichen Themen fasziniert wie seine heute noch berühmten Zeitgenossen, aber vielleicht einfach zu stark im Glauben verhaftet, um zu den richtigen Ergebnissen zu kommen.

John Glassie zeichnet ein respektvolles Porträt dieses Gelehrten, der in Zeiten großer Umwälzungen versucht hat, alles zu wissen:

Auf jeden Fall ist klar, dass die moderne Perspektive einfach nicht ausreicht, um Kircher und seine unglaublichen Unternehmungen zu beurteilen. Für vieles verdient er Anerkennung, zum Beispiel für sein Bemühen, alles zu erfahren und alles, was er wusste, mitzuteilen. Er hat tausenderlei Fragen an die ihn umgebende Welt gestellt und viele seiner Zeitgenossen dazu angeregt, seine Antworten zu hinterfragen. Er hat viele Geister angeregt, verwirrt und unfreiwillig amüsiert, und er war eine Quelle vieler Ideen – richtig, halb richtig, halbgar, lächerlich, wunderschön und allumfassend.

Am Ende bin ich doch fast versöhnt mit diesem Buch.

John Glassie: Der letzte Mann, der alles wusste – Das Leben des exzentrischen Genies Athanasius Kircher
Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt
Berlin Verlag 2014
ISBN 978-3-8270-1173-2

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8 Kommentare

  1. Wunderbare Besprechung! Ich kann mir fast vorstellen, wie Du bei den göttlichen Errettungen stöhnst :-) Aber auch wenn die Biographie selbst vielleicht Mängel hat, so machst Du mit dieser Rezension auf diesen Universalgelehrten richtig neugierig.

  2. Das Buch liegt bei mir noch auf dem Wunschzettel. Leider hat mir deine Rezi den Entschluss, das Buch zu kaufen, nicht leichter gemacht.

  3. Was für eine Zeit, in der es noch Universalgelehrte gab, die sich “mal eben” mit Neugier und Forscherdrang in eine neue Wissenschaft einarbeiten konnten. Was für eine Zeit, in der sich – endlich – Rationalität und Wissenschaft überhaupt durchsetzen konnten. Und von Athanasius Kircher habe ich vor Deinem Artikel überhaupt noch nie etwas gehört.
    Viele Grüße, Claudia

  4. Pingback:Vorfreuden für Leseratten IV – Herbst 2014 – Elementares Lesen

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