Lars Gustafsson: Gegen Null – Eine mathematische Phantasie

Ein Beitrag zum Indiebookday 2015

Gustafsson Gegen NullDer schwedische Schriftsteller und Philosoph Lars Gustafsson verwebt in seinem kunstvollen Text Gegen Null physikalische, mathematische, literarische und philosophische Aspekte miteinander. Es ist ein Buch voller präzise formulierter Miniaturen, das auf spielerische Weise große Fragen stellt: Was ist die Welt? Wie erkenne ich, dass ich bin und wer ich bin? Was ist Zeit?

Und es geht um Zufall und Wahrscheinlichkeiten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir Menschen überhaupt existieren, geht gegen Null – dennoch sind wir hier auf diesem Planeten in der Einsamkeit des Universums.

Gauß-Glocke der Normalverteilung

Schon Aristoteles hat festgestellt, dass das Unwahrscheinliche möglich ist. Nach der Gaußschen Normalverteilung der Wahrscheinlichkeiten bewegt sich ein Großteil aller Phänomene und Ereignisse allerdings um einen Mittelwert herum. Das Unwahrscheinliche ist zwar möglich, aber mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit. Steckt hinter all dem ein Plan?

Wie kann die Natur wissen, dass sie so viele unterschiedliche Erscheinungen auf diese Art und Weise anordnen muss? Von der Körpergröße über die Intelligenz zur Tagestemperatur? Die Antwort ist, dass sie es nicht weiß.

Auch andere Bereiche der Mathematik werden berührt, wie die Topologie, die Geometrie und die Funktionentheorie. Gustafsson ist offenbar ein großer Bewunderer des Mathematikers Bernhard Riemann, dessen Riemannsche Vermutung von 1859 noch immer zu den bedeutsamsten Rätseln der Mathematik zählt. Riemann ist schon im Alter von 40 Jahren gestorben und wird

niemals erfahren […], wie viele Mathematikerleben er ruiniert hat und wie viele er zu den höchsten Höhen gelehrter Gesellschaften und Auszeichnungen geführt hat mit seiner fast unerträglich kühnen Primzahl-Hypothese, in der die ζ-Funktion den schmalen, komplexen Korridor öffnet, in dem die so uneinnehmbar starken Türme der Zahlenwelt ihren Platz haben.

Man muss nichts von Mathematik verstehen, um dieser mathematischen Phantasie von Lars Gustafsson folgen zu können. Es genügt die Bereitschaft, sich auf Gedankenspiele einzulassen. Der Autor stellt Verbindungen zwischen der Literatur und der Physik her, holt sich Inspirationen aus allen Bereichen und mischt daraus etwas neues. So gelingt es ihm, an Episoden aus den Romanen Don Quijote von Miguel Cervantes und Alice im Wunderland von Lewis Carroll das Prinzip der transfiniten Menge und der Faltung zu verdeutlichen. Sogleich möchte man in diese literarischen Welten eintauchen.

Die Kleinsche Flasche

Die Kleinsche Flasche

Gustafsson konfrontiert den Leser auch mit der Logik negativer Fakten, mit platonischen Körpern und der faszinierenden Kleinschen Flasche, bei der die Innen- und Außenseite identisch sind. Diese Flasche erinnert Gustafsson an unsere irdische Existenz, unsere Welt voller logischer Brüche und Paradoxa. Eine Welt voller Rätsel, von der wir nur einen Teil wahrnehmen können und niemals imstande sein werden, sie vollständig zu begreifen.

Vor etwa 2 Jahren habe ich dieses Buch schon einmal gelesen und merke, wie anders es jetzt bei mir ankommt. Inzwischen habe ich mehr über die mathematischen und physikalischen Konzepte gelesen, die von Gustafsson erwähnt werden. Meine Aufmerksamkeit ist daher für ganz andere Details geschärft – ein Phänomen, das ich viel zu selten erlebe. Meine letzten beiden Lektüren waren  die perfekte Einstimmung auf diese hier: Einsteins Jahrhundertwerk von Thomas Bührke hilft mir beim Verständnis physikalischer Aspekte und das Buch Die Macht des Unwahrscheinlichen von David Hand hat mir das Verständnis für die Wahrscheinlichkeitsrechnung mitgegeben. Ist es Zufall oder Zwangsläufigkeit, dass es mir ausgerechnet jetzt wieder in die Hände gefallen ist? Dazu hätte Gustafsson sicher etwas zu sagen.

Ich habe dieses Buch wie ein Gedicht gelesen: Zeile für Zeile, fast jeden Absatz mehrmals wiederholend, um möglichst viele Nuancen zu erfassen. Denn der Text ist voller poetischer Sprachbilder und sehr konzentriert. Nicht jede Miniatur erschließt sich beim ersten Mal. Aber das ist ja gerade das Anziehende! Jetzt möchte ich unbedingt in den Romanen und Lyrikbänden von Gustafsson nach Spuren von Mathematik, Physik und Philosophie suchen. Was für eine gelungene Melange!

Lars Gustafsson: Gegen Null – Eine mathematische Phantasie
Secession Verlag 2011, 96 Seiten
Aus dem Schwedischen von Barbara M. Karlson
ISBN 978-3-905951-04-2
Erhältlich bei der Buchhandlung des Vertrauens

 

Indiebook HeaderHeute wird zum dritten Mal der Indiebookday begangen. Er dient dazu, den kleineren deutschsprachigen Verlagen die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie dank ihres großen Engagements für besondere Bücher verdienen. Bereits im letzten Jahr ist diese tolle Aktion, die vom mairisch Verlag initiiert wurde, auf weitere europäische Länder übergeschwappt. Ihr könnt einen Beitrag leisten, indem Ihr ein Buch eines kleinen unabhängigen Verlags erwerbt und in den sozialen Netzwerken darüber berichtet.

Der Schweizer Secession Verlag für Literatur, der dieses wunderbare, schön gestaltete Buch von Lars Gustafsson verlegt hat, existiert seit 2009 und hat ein anspruchsvolles Programm für internationale Literatur aufgebaut, darunter auch den Bestseller Glückskind von Steven Uhly. Alle Bücher des Verlags sind schlicht und edel im Design – äußerst verführerisch!

Informationen zum Indiebookday gibt es hier und bei Facebook. Wer Interesse an weiteren Büchern aus unabhängigen Verlagen hat, kann dort auf Entdeckertour gehen!

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10 Kommentare

  1. Ich glaube zwar nicht – trotz Deiner Worte – dass ich mich an Gutafsson Buch heranwagen würde – Mathematik ist vermintes Gebiet, auch wenn sie poetisch verkleidet wird. Aber Deinen Hinweis auf den Secessions Verlag kann ich voll unterschreiben: Wunderschön gemachte Bücher. Ich habe schon etliche Male zugeschlagen, auch aufgrund Haptik und Optik, und dadurch neue Literaten kennengelernt, die mir extrem gut gefallen haben – hier stimmen Inhalt und Äußeres überein.

    • Man kann Gustafssons Gedankengängen auch ohne mathematisches Verständnis gut folgen. Mich haben schon beim 1. Lesen die Verbindungen gereizt, die er herstellt. Aber für dich sind seine Gedichte vielleicht eher geeignet.
      Beim Secession Verlag bin ich jetzt auf Entdeckertour durch das schöne Programm :-)

  2. Toller Hinweis – dieses Buch werde ich mir zumindest einmal ansehen. Und für den Indiebookday kann man ja gar nicht genug Werbung machen!

  3. Liebe Petra,
    wieder eine verführerische Rezension. Auch die Einbeziehung der Lektüre-Vorstufen und wie diese Dein jetziges Leseverständnis erweitert haben, finde ich sehr gelungen.
    Zum Thema “Riemannsche Vermutung” und Primzahlen habe ich noch einen Romantipp für Dich, dessen Besprechung Du bei mir nachlesen kannst:
    https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/04/01/ich-und-die-menschen/

    In diesem Roman von Matt Haig erscheint ein Außeriridischer auf der Erde, um den Beweis der “Riemannschen Vermutung” zu vernichten, damit unsere Spezies nicht noch mehr technische Fortschritte erreichen kann… dabei kommt ihm – unerwartet und unlogisch – die Liebe in die Quere.

    Es ist keine klassische Science-Fiction, sondern ein nachdenklich-amüsant-gesellschaftskritischer Roman.

    Unberechenbare ;-) Grüße
    Ulrike von Leselebenszeichen

  4. Liebe Ulrike,
    Da hast du meinen Lesegeschmack genau richtig eingeschätzt! Ich habe das Buch von Matt Haig als Hörbuch genossen:
    https://www.elementareslesen.de/2014/05/07/matt-haig-ich-und-die-menschen/ und bin ebenso begeistert wie du. Nachdem ich deine Eindrücke dazu gelesen habe, möchte ich am liebsten gleich zum x. Mal reinhören oder doch das Buch anschaffen :-)

  5. Pingback:Der Sonntagsleser – KW 12/2015 (Impressionen von der Leipziger Buchmesse, Interviews und Buchvorstellungen) | Lesen macht glücklich

  6. Liebe Ulrike,
    eine sehr schöne Besprechung und ein toller Hinweis. Nicht, dass Mathe nun mein Hobby wäre, aber Lass Gustafson mag ich sehr und seine Art, de Dinge auf poetische Weise zu sagen. Da bekommt Mathe sogar bei mir zum ersten Mal nach Enzensbergers wunderbarem Zahlenteufel (http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-zahlenteufel/978-3-446-18900-3/) mal wider eine Chance…
    Liebe Grüsse
    Kai

  7. Pingback:Sachbuch-Vielfalt aus Indie-Verlagen | Elementares Lesen

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