Werner Müller: Lebenswelt Meer

Cover Mueller Lebenswelt Meer

© Springer

Etwa 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt. Das Meer ist Lebensraum für eine Fülle fantastischer Bewohner, begabt mit Sinnen und Fähigkeiten, von denen der Mensch nur träumen kann. Seine Bewohner stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen, je nachdem, welche Regionen sie besiedeln, ob Küstengewässer, offenes Meer oder die Tiefsee. Der emeritierte Biologie-Professor Werner Müller nimmt uns mit zu einer Exkursion in die Lebenswelt Meer. Er zeigt einen kleinen, aber beeindruckenden Ausschnitt des Panoramas.

Beim Schippern im Mittelmeer beobachten wir die faszinierende Tauchtechnik der Delfine und erfahren, wie die Ultraschallortung und die Infraschallkommunikation bei der Familie der Wale funktionieren. Diese Sinnesleistungen werden durch den Schiffsverkehr in den Meeren allerdings massiv beeinträchtigt.
Die Küsten sind durch einen regelmäßigen Wechsel zwischen Ebbe und Flut geprägt. Bei einer Strandwanderung und einem Besuch im Nordsee-Museum erzählt uns der Autor vom Weltnaturerbe Wattenmeer der Nordsee und von der Entstehung der Gezeiten. Wattwürmer, Entenmuscheln, Napfschnecken – jede Tierart hat ihre eigene Strategie, den starken Tidenhub zu bewältigen.

Auch der Besuch eines Sealife-Aquariums mit tropischer Fauna steht auf dem Programm. Hier lernen wir verschiedene Körperbaupläne kennen, angepasst an die jeweilige Lebensweise. Aktiv lebende Tiere wie zum Beispiel Fische sind meist bilateral-symmetrisch geformt. So können sie sich gezielt vorwärts bewegen, vor Räubern flüchten oder Beute jagen. Passive Lebewesen wie Quallen oder Seerosen sind oft radiärsymmetrisch gebaut mit kelchförmigen Tentakeln, die zum Filtern des Planktons dienen. Viele fest verwurzelte Lebewesen, zum Beispiel Weichkorallen und andere sog. Blumentiere, wurden lange für Pflanzen gehalten, deren Zweige und Blüten im Wasser treiben – bis man ihre tierische Natur erkannte.

Bilateral- und Radiärsymmetrie

Es gibt auch Arten, die verschiedene Baupläne nacheinander durchspielen. Besonders verblüffend ist die Metamorphose vieler Nesseltiere, zum Beispiel bei Würfelquallen. Als Polypen sind sie fest mit einer Fußscheibe am Grund verwachsen. Nach der Knospung schweben ihre Ableger als Quallen umher und vermehren sich geschlechtlich. Deren Larven wiederum verankern sich an einem geeigneten Ort und wandeln sich zum Polypen. Natürlich existiert eine verwirrende Vielzahl von Mischformen, die die Meeresforscher noch immer vor Rätsel stellen. Ob sexuelle Fortpflanzung, natürliches Klonen durch Knospung oder das Massenlaichen während bestimmter Mondphasen, jede Fortpflanzungsstrategie hängt von der Lebensweise und dem bevorzugten Lebensraum der Meeresbewohner ab. Die Vor- und Nachteile beleuchtet Werner Müller mit etlichen Beispielen.

Korallenriffe sind komplexe und mittlerweile bedrohte Lebensräume. Sie sind vorwiegend in tropischen Gewässern zu finden, aber auch in Kaltwasserzonen wurden inzwischen welche entdeckt. Werner Müller erzählt von Kalkgebirgen mit gewaltiger Ausdehnung, aufgetürmt durch Steinkorallen, die in Symbiose mit Algen leben und einer Vielzahl anderer Lebewesen in ihren Kolonien eine Heimat bieten. Dort werden aber auch erbitterte Kämpfe um neue Territorien mit der Nachbarschaft ausgefochten – kaum vorstellbar bei derart passiven Lebensformen!

Hydractinia: Kolonien bildende Organismen im Detail

In der Tiefsee herrschen extreme Temperatur- und Druckverhältnisse. Wir begleiten Meeresforscher mit dem Tauchroboter, um die Tiefsee zu erkunden, einen scheinbar lebensfeindlichen, stockdunklen Ort. Doch die Schwarzen und Weißen Raucher in Tausenden Metern Tiefe bieten einen reichhaltigen Lebensraum für Spezialisten. Dort gibt es Mikroorganismen, die sich von den schwefeligen Gasen der Tiefseeschlote ernähren und wiederum die Nahrung für Tiefseegarnelen, Muscheln oder Riesenbartwürmer bilden. Im Buch erfahren wir, welche chemischen Prozesse dort ablaufen.

Chemie der Schwarzen Raucher

Der Autor diskutiert knapp, ob das Leben in der Tiefsee entstand oder durch Asteroideneinschläge auf die Erde kam. In den Vulkanschloten der Tiefsee sind eigentlich alle Bedingungen zum Aufbau der Grundbausteine des Lebens erfüllt. Doch der Versuch, den Beginn des Lebens im Labor nachzustellen, gelang bisher noch nicht.

Werner Müller hat selbst Meeresforschung betrieben. Er hat mit Modellorganismen im Labor gearbeitet und auf Sylt, Helgoland, auf Ischia und in der Bretagne geforscht. Im Buch Lebenswelt Meer erzählt er abwechselnd aus der Wir-Perspektive interessierter Laien, die beobachten, staunen und Fragen stellen, und als referierender Experte. Insgesamt ist das Buch eher sachlich bis trocken gehalten. Die hervorragenden Grafiken und Fotografien sind eine perfekte Ergänzung zu den vielen Informationen. Nur zum Thema Wasserpflanzen erfahren wir leider kaum etwas, da der Schwerpunkt des Buches auf der marinen Tierwelt liegt. Doch die wird sehr facettenreich dargestellt!

(Wer mehr über Meeresforschung erfahren möchte, findet auf der Website zum Wissenschaftsjahr der Meere und Ozeane 2016/17, Infos zu aktuellen Projekten und Möglichkeiten, sich selbst zu beteiligen.)

Werner A. Müller: Lebenswelt Meer – Reportagen aus der Meeresbiologie und Vorstellungen über die Entstehung des Lebens
Springer Verlag 2016, 255 Seiten mit vielen Grafiken und Fotografien
ISBN 978-3-662-52851-8
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2 Kommentare

  1. Sehr ausführlich, danke!
    Ein unerschöpfliches Thema.
    Korallenriffe waren auch großes Thema in dem Buch „Bernhard Kegel: Die Herrscher der Welt: Wie Mikroben unser Leben bestimmen“, das ich in dem Artikel
    https://kopfundgestalt.com/2016/12/16/bernhard-kegel-die-herrscher-der-welt-wie-mikroben-unser-leben-bestimmen/
    beschrieb.
    „Der Versuch, den Beginn des Lebens im Labor nachzustellen, gelang bisher noch nicht.“
    Da ist man meines Erachtens schon einen großen Schritt weiter. Ich hatte mal vor einem halben Jahr dazu im Netz recherchiert.

    Abropos: Bist Du denn mit John Brokmann weiter gekommen? Bin auf Seite 400 angelangt. Es geht schleppend mit meinem recht langsamen Lesetempo. In Urlauben allerdings schaffe ich etwa 3 Bücher dieser Art (und Umfang etwa 250 Seiten je Buch).

    • Von den kleinen Schritten, die bisher im Labor geglückt sind, ist im Buch durchaus die Rede. Der Autor berichtet von Experimenten, bei denen einzelne Grundbausteine, z.B. Aminosäuren, Zucker, Vorstufen von Lipiden, und vor allem RNA-Bausteine, erzeugt werden konnten. Der Weg zu einer komplexen, echten Urzelle ist aber wohl noch weit. Die Evolution hatte ja schließlich Milliarden von Jahren Zeit dafür ;-). Mal sehen, wie weit die Synthetische Biologie dabei kommt.
      Das von dir erwähnte Buch von Bernhard Kegel kenne ich bereits. Es hat mich wirklich begeistert und mir eine neue Sichtweise auf Mikroben beschert. Vielen Dank für den link zu deinem lesenswerten Artikel! Ich habe dein Blog gleich abonniert, damit ich in Zukunft nichts verpasse.
      Und was John Brockmans Buch betrifft: das finde ich hochinteressant, aber ich kann es immer nur in kleinen Etappen lesen. Bisher habe ich etwa 200 Seiten geschafft.

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