Adrian Owen: Zwischenwelten

Cover Owen Zwischenwelten

© Droemer

Wachkoma-Patienten und Menschen mit schweren Hirnverletzungen galten lange Zeit als unfähig, ihre Umgebung wahrzunehmen. Gefangen in einer Grauzone zwischen Leben und Tod, war der Kontakt mit ihnen versperrt. Der britische Neuropsychologe Adrian Owen tüftelte während der letzten 20 Jahre an Methoden, das Bewusstsein solcher Menschen zu erforschen und zu ihnen durchzudringen. Sein Buch Zwischenwelten ist ein bewegender Bericht über diese Arbeit.

Motiviert durch persönliche Schicksalsschläge fragte sich Adrian Owen als junger Hirnforscher, was in einem Menschen vorgeht, der im Wachkoma liegt. Wieviel bekommt er von seiner Situation und von der Außenwelt mit? Leidet er? Spürt er Schmerzen? Möchte er sich bemerkbar machen? Solche Fragen prägten Owens wissenschaftliche Laufbahn an verschiedenen Forschungseinrichtungen, die er in seinem Buch Revue passieren lässt. Mit seinen Experimenten leistete er Pionierarbeit, die den Umgang mit  Wachkoma-Patienten nachhaltig verändert hat.

Einfühlsam erzählt Owen von den Patienten und ihren Familien, die ihm immer neue Denkanstöße für seine Arbeit lieferten. 2005 erzielte Owens Team einen Durchbruch mit einem spannenden Experiment. Wachkoma-Patienten sollten sich vorstellen, Tennis zu spielen oder durch die Räume eines Hauses zu gehen. Denn dabei werden unterschiedliche Regionen im Gehirn aktiviert. Bei den Hirnscans gab es zum Teil die gleichen Hirnaktivitäten wie bei gesunden Testpersonen! Später stellte man ihnen Fragen, die nur ein Ja oder Nein als Antwort erforderten. Tennis oder Hausspaziergang hieß Ja oder Nein – nun gab es eine echte Möglichkeit zur Kommunikation!

Im Laufe der Jahre verfeinerten Owen und seine Kollegen ihre Methoden. Auch die Reaktionen auf einen Krimi von Alfred Hitchcock halfen beim Verständnis der Abläufe im Gehirn. Anhand der Hirnscans stellten die Forscher fest, ob die Patienten sich in die Filmfiguren hineinversetzen und Spannung empfinden konnten. Faktoren wie Gesichtserkennung, Sprachverständnis oder Schmerzreaktionen deuteten darauf hin, dass etliche Wachkoma-Patienten ihre Umwelt trotz ihres Zustands, der heute Syndrom reaktionsloser Wachheit genannt wird, wahrnahmen. Doch haben diese Menschen noch ein Bewusstsein? Kann man die Hirnaktivität mit Bewusstsein gleichsetzen? Was ist überhaupt das Bewusstsein? Diese kniffligen Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten.

Manche Patienten kehrten sogar aus den Zwischenwelten zurück und konnten Auskunft über ihre Wachkoma-Phase geben. Allein das Wissen, dass sie geistig noch da sind, hatte bei Angehörigen und Pflegepersonal mehr Zuwendung bewirkt und sie ins Leben zurückgeholt.

Lebhaft schildert Owen die knifflige Planung seiner Experimente, die Fehlschläge und das Austesten neuer technischer Möglichkeiten. Er gibt spannende Einblicke in die Methoden der Hirnforschung. Was im Gehirn abläuft und welche Rückschlüsse die Hirnscans zulassen, wird auch für Laien verständlich erläutert. Der Autor thematisiert auch ethische und juristische Fragen, die mit dem Thema Bewusstsein einhergehen, zum Beispiel das Recht auf Leben oder das Recht zu sterben. Als Leiter des Brain and Mind Institute an der Western University in Ontario, Kanada, arbeitet Adrian Owen heute an einer Optimierung der Messmethoden, um dem Bewusstsein auf die Spur zu kommen und langfristig die Lage der Patienten zu verbessern. Doch das Staunen über die Erfolge hat er nicht verloren:

Der wahre Kern der Wachkomaforschung liegt jenseits der ausgeklügelten Experimente und der verblüffenden Technologie. Es geht darum, scheinbar „verlorengegangene“ Menschen wiederzufinden und mit ihren Angehörigen in Verbindung zu bringen. Jede dieser Kontaktaufnahmen erscheint mir immer noch wie ein Wunder.

 

Zwischenwelten ist ein faszinierendes Buch, denn Adrian Owen ist kein distanzierter Wissenschaftler. Er hat seine Forschungen immer leidenschaftlich und voller Anteilnahme betrieben. Diese Einstellung zieht sich durch das ganze Buch!

Adrian Owen: Zwischenwelten – Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod
Aus dem Englischen von Harald Stadler
Droemer Verlag 2017, 320 Seiten
ISBN 978-3-426-27694-5 gebunden
ISBN 978-3-426-30125-8 Taschenbuch
Leseprobe

Nominiert als Wissensbuch des Jahres 2018 in der Kategorie Zündstoff

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7 Kommentare

  1. Seit Oliver Sacks finde ich solche Geschichten absolut faszinierend — danke für den Tipp, ich werde mir auf jeden Fall mal eine Leseprobe holen.
    Was anderes, aber Ähnliches: Kennst du dieses Video hier? Auch ein kleiner Einblick in das, was in dieser Zwischenwelt passiert. https://www.ted.com/talks/jill_bolte_taylor_s_powerful_stroke_of_insight

    • Tatsächlich hat mich Owens Buch gelegentlich an die Fallgeschichten von Oliver Sacks erinnert! Den verlinkten Vortrag finde ich sehr spannend, vielen Dank! Das werde ich mir später in Ruhe ansehen. Ich habe vor langer Zeit von Taylors Buch gehört, es damals aber nicht gelesen.

    • Huh, was für ein berührender Vortrag! Erstaunlich, dass sie diesen Schlaganfall so gut überstanden hat und wie sie damit umgeht! Kannst du das Buch über den Schlaganfall und ihre Genesung empfehlen?

  2. Liebe Petra,
    allein schon deine Besprechung des Buches gibt spannende und interessante Einblicke in die Forschung über Wachkomapatienten. Die Wirkung der Hitchcock-Filme hat mich dabei am meisten fasziniert. Wirklich ganz erstaunlich!
    Viele Grüße, Claudia

  3. Wie ich ja schon schrieb, befasst sich auch Dehaene intensiv mit den Resten des Bewusstseins, die in locked-in-Personen zu finden sind.
    Ich frage mich: Werden die Ergebnisse irgendwie koordiniert?!
    Es werden sicher hunderte da an der Speerspitze forschen!

    Es ist jedenfalls spannend, was passiert, wenn sich Bewusstsein feststellen lässt. Bei Angehörigen…aber auch bei Patienten. Da entspr. Verfahren noch teuer sind, so Dehaene, entlässt man den Patienten womöglich wieder ins Nichts – in den Nichtkontakt.
    Irgendein berühmter lock-in-Patient hat sogar ein Buch in diesem Zustand diktiert, erinnere ich mich.

    • Das ist wirklich lesenswert! Es heißt „Schmetterling und Taucherglocke“ von Jean-Dominique Bauby. Adrian Owen hat es auch in seinem Buch erwähnt. Er hofft, dass die Kommunikation mit Wachkoma-Patienten in Zukunft einfacher wird durch Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI). Die werden jetzt schon beispielsweise zum Buchstabieren genutzt. Aber zukünftig wird diese Technologie günstiger und vielseitiger.

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