Timothy Brook: Wie China nach Europa kam – Die unerhörte Karte des Mr. Selden

Wagenbach

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Alles begann mit der Wiederentdeckung einer chinesischen Landkarte in der Bodleian Library, der Bibliothek der Universität Oxford. Dort lagerte sie unbeachtet einige Jahrhunderte in den Archiven der chinesischen Abteilung, zusammen mit Manuskripten, die der Seerechtsanwalt John Selden der Bibliothek nach seinem Tode 1654 vermacht hatte. Als der Historiker und Chinaexperte Timothy Brook 2009 auf diese Karte aufmerksam wurde, war er sofort fasziniert. In seinem Buch Wie China nach Europa kam erzählt er die verschlungene Geschichte der Karte, die heute als Selden Map of China bekannt ist.

Was macht dieses Exemplar so außergewöhnlich? Vor allem ist es ein beeindruckendes Unikat. Eine vergleichbare Karte aus dem China der Ming-Dynastie ist bisher nicht gefunden worden. Sie entspricht in vieler Hinsicht nicht den Konventionen der chinesischen Kartografie, sondern ähnelt eher europäischen Karten jener Zeit, weist aber auch für europäische Karten erstaunlich moderne Merkmale auf. Der Fokus liegt auf den Handelsrouten im Südchinesischen Meer und nicht, wie zu erwarten, auf den Landmassen. Ungewöhnlich ist auch eine Kompassrose auf der Karte, denn obwohl der Kompass von Chinesen im 11. Jahrhundert erfunden worden war, gab es auf chinesischen Karten keine derartigen Abbildungen, auf europäischen aber schon. Timothy Brook versucht die vielen Geheimnisse zu lüften, indem er ins 17. Jahrhundert reist, als dieses bemerkenswerte Stück entstand und durch mehrere Hände schließlich aus John Seldens Nachlass in die Bodleian Library gelangte:

Eine historische Karte zu lesen setzt voraus, ihre Codes zu erlernen – und einige unserer eigenen auszublenden, um nicht voreilig die Verfahrensweisen des Kartenmachers mit unseren eigenen gleichzusetzen.

Einfache Antworten gibt es nicht, und so tastet sich Brook bis zur Entstehung der Karte zurück. Er entfaltet ein Panorama des 17. Jahrhunderts, erzählt von den Beziehungen zwischen dem englischen König und seinem Volk, vom China der späten Ming-Dynastie, von der Entstehung des Seerechts als Folge der Querelen um Handelswege und von der Suche der Kolonialmächte nach Handelsstützpunkten im asiatischen Raum. In jener Zeit gab es auch einen Wandel der kartografischen Gebräuche für die Navigation, von Portolankarten hin zu Karten mit Mercator-Projektion. Brook erzählt von Menschen, die helfen können, die Karte in einen Gesamtkontext einzuordnen und ihre Codes zu knacken. Darunter waren Seefahrer im Auftrag der englischen Ostindien-Kompanie, chinesische Gelehrte, englische Bibliothekare und natürlich John Selden. Sein Auftritt steht allerdings nicht in direkter Beziehung zur Karte, sondern ist dessen Bedeutung für das See- und Völkerrecht zu verdanken, als dessen Mitbegründer er gilt. Seldens Weltoffenheit und sein Interesse für orientalische Sprachen haben dazu geführt, dass diese Karte irgendwann in seinen Besitz gelangte.

Manche Passagen waren mir zu detailliert und langatmig. Bei deren Lektüre war nicht klar, worauf der Autor hinaus will und ob es relevant ist im Zusammenhang mit der Karte. Diese kleinen Ausnahmen sind zu verschmerzen. Denn auch hier war Brooks Freude am Erzählen zu spüren. Deutlich überwogen die spannenden Abschnitte, zum Beispiel über Brooks Recherchen, die er sehr lebendig aus der Ich-Perspektive schildert. Es macht Spaß, ihm bei seinen Spekulationen und Erkenntnissen zu folgen. Die knifflige Übersetzungsarbeit, die rätselhaften Merkmale auf der Karte, der Vergleich der Selden Map mit anderen chinesischen und europäischen Karten des 17. Jahrhunderts. Selbst die Rückseite der Karte konnte neue Anhaltspunkte liefern und versetzte Timothy Brook und die Restauratoren der Bodleian Library in Entzücken – und uns gleich mit! Eine wunderbare Lektüre!

Timothy Brook konnte nicht alle Geheimnisse der Selden Map entschlüsseln. Aber er liefert uns einen spannenden Einblick in die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse jener Epoche, als die Karte entstand und Asien und Europa sich durch den zunehmenden Handel einander annäherten. Das Buch besticht auch durch seine bibliophile Ausstattung, gebunden, mit rotem Lesebändchen, vielen Porträts und Abbildungen der erwähnten Karten.

Timothy Brook: Wie China nach Europa kam – Die unerhörte Karte des Mr. Selden
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Verlag Klaus Wagenbach 2015, 240 Seiten
ISBN 978-3-8031-3656-5

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