Im Sommer 1925 verschwand der britische Offizier und Forschungsreisende Percy Harrison Fawcett in den Tiefen des brasilianischen Urwalds. Er war dort auf der Suche nach einer versunkenen Stadt, die schon viele Abenteurer angezogen hatte. Zahlreiche Expeditionen haben sich seitdem auf die Suche nach Fawcett und der geheimnisvollen Stadt gemacht. Doch alle Spuren verliefen im Sande.
Einer der Suchenden war der brasilianische Journalist Antonio Callado. 1952 reiste er mit Brian Fawcett, einem Sohn des Verschollenen, in den Regenwald, um den Fall neu aufzurollen. Sein ein Jahr später erschienener Reisebericht Der Tote im See schildert die abenteuerliche Suche nach Fawcett und seinen Begleitern. Das Buch gilt in Brasilien als Klassiker des literarischen Journalismus.
Callado hatte als ehemaliger Reporter der BBC einige Jahre in England gelebt, dort eine Britin geheiratet und war gerade nach Brasilien zurückgekehrt. Offenbar hat diese Zeit seinen Blick auf die britische Mentalität stark geprägt, denn sein Bericht strotzt vor ironischen Seitenhieben auf England und das Sendungsbewusstsein des British Empire. Colonel Percy Fawcett ist für Callado dessen typischer Vertreter, da er von einem Wiedererstarken des Empire träumte.
Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg wandte Fawcett sich archäologischen Projekten in Sri Lanka und Südamerika zu. Die Schätze, die er zu finden gehofft hatte, fand er nicht. Aber er stieß auf ein altes Manuskript über die Ruinen einer großen Stadt mitten im brasilianischen Urwald. Dort bot sich erneut die Chance auf eine wichtige Entdeckung.
Seine erste Expedition 1920 verlief erfolglos, und so versuchte er 1925 in Begleitung eines Soldaten und seines Sohnes Jack erneut sein Glück. Auf der Suche nach der versunkenen Stadt hat er seine Spuren allerdings geschickt verwischt, um vor Verfolgern sicher zu sein und den Ruhm und die vermeintlichen Schätze allein für sich zu beanspruchen. Von dieser Reise kehrte er nie zurück.
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte gab es viele Spekulationen über das Schicksal von Fawcetts Expedition. Mehrere Indios aus verschiedenen Stämmen gestanden den Mord an Fawcett. Dabei wurden unterschiedliche Szenarien geschildert, so dass es unmöglich war, die Wahrheit herauszufinden.
Was war das für ein Mensch, dessen Mord die Indios so bereitwillig gestanden? Callado fand heraus, dass Fawcett die Indios wohl um ihren Lohn betrogen hatte und durch seine herrische, unhöfliche Art mehrmals ihr Ehrgefühl verletzte. Dies spricht am ehesten für die Mordhypothese, doch es ist genauso gut möglich, dass er und seine Begleiter wilden Tieren zum Opfer gefallen sind. Callados Reise auf Fawcetts Spuren bringt nur weitere Widersprüche ans Licht. So wurde ein Schädel gefunden, der angeblich von Fawcetts Leiche stammte. Callado und seine Begleiter suchten den Fundort der Knochen auf in der Hoffnung auf weitere Hinweise. Einer der Höhepunkte des Buches ist der Besuch des angeblichen Grabs am See:
Am Rand des sogenannten Großen Sees schließlich bezeichnete eine Art heiliger Baum eine weitere Station auf Fawcetts Passionsweg: Warum auch immer, seine Mörder hatten hier angeblich die Körpergröße des Colonels und seiner beiden Begleiter durch Einkerbungen festgehalten.
Callado stellt allerdings infrage, ob das wirklich Spuren von Fawcett sein können. Denn die Indios verwickelten sich ständig in Widersprüche, sie erzählten den Weißen oft einfach das, was sie hören wollten.
Eine wunderbare Passage verdeutlicht den Kontrast zwischen dem Indiostamm der Kalapalo, in dessen Territorium die Recherchen stattfanden, und Callados Truppe. Hier äußert sich auch die literarische Qualität des Textes:
Während die splitternackten Indios durch das messerscharfe hohe Schilfgras liefen, als bewegten sie sich inmitten weicher Federn, waren unsere Stiefel und Hemden und manchmal auch unser Fleisch bereits an zahlreichen Stellen aufgeschlitzt worden. Und wenn Lianen und Bambussträucher manchmal ein scheinbar undurchdringliches Dickicht bildeten, gingen die Indios einfach in die Hocke und schlüpften hindurch wie Aale.
Callado zitiert ausgiebig aus den Reiseberichten, die er zur Vorbereitung studiert hat und beleuchtet knapp die gegenwärtigen Lebensbedingungen der Indios im brasilianischen Regenwald. Er reflektiert darüber, ob man sie in die zivilisierte Welt der Gegenwart integrieren oder ihnen lieber ein Schutzgebiet zuweisen sollte, um ihre ursprüngliche Lebensweise zu bewahren. Da sich dieser Reisebericht auf die Situation von 1953 bezieht, fehlte mir manchmal eine historische Einordnung oder ein Hinweis auf die gegenwärtige Situation in Brasilien und das Leben der Indios.
Diese Reportage war äußerst spannend zu lesen. Callados Text ist nicht besonders umfangreich, nur knapp über 100 Seiten lang. Er besitzt keine stringente Struktur, sondern ist kunstvoll ineinander verschachtelt. Doch wer sich auf diese Methode einlässt und einfach mit dem Erzählfluss treibt, liest dieses Buch mit großem Gewinn. Dem Berenberg Verlag ist es zu verdanken, dass diese Reportage erstmals auf deutsch zugänglich ist.
Der Verlag wurde 2004 von Heinrich von Berenberg, einem ehemaligen Lektor und Übersetzer, gegründet. Sein kleines, aber feines Verlagsprogramm umfasst inzwischen etwa 70 Bücher, vorwiegend Essays und Reportagen, Belletristik und neuerdings auch Lyrik. Alle Bände zeichnen sich durch eine unverwechselbare, schöne Cover-Gestaltung mit einem Einband aus Halbleinen und fadengehefteten Seiten aus, deren Umfang 200 Seiten selten überschreitet. Da gibt es noch vieles zu entdecken!
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Antonio Callado: Der Tote im See – Leben und Verschwinden des Colonel Fawcett im brasilianischen Regenwald
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Peter Kultzen
Berenberg Verlag 2013
ISBN 978-3-937834-66-5
Für weitere Lektüre empfehle ich „Die verschwundene Stadt Z“ von David Grann. Da geht es ebenfalls um Fawcett, ist aber sehr viel aktueller, toll zu lesen und mit einer überraschenden Wendung zum Schluss.
Eines meiner absoluten Non-Fiction-Bücher der letzten Jahre!
Vielen Dank für den Tipp, da hast du mich sehr neugierig gemacht.
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