Seit das Internet unseren beruflichen und privaten Alltag durchdringt, hat sich nicht nur unser Denken verändert, sondern auch die Struktur unseres Planeten. Dies ist der Ausgangspunkt des Buches Erschütterung der Welt. Der Kulturkritiker Shumon Basar, Schriftsteller Douglas Coupland und Kurator Hans Ulrich Obrist spüren den Veränderungen unserer digitalen Gegenwart nach und hinterfragen kritisch unser Nutzungsverhalten – allerdings nicht mit dem moralischen Zeigefinger, sondern mit künstlerischen Mitteln. Zugleich ist ihr Buch als Update des medientheoretischen Kultbuchs Das Medium ist die Massage von Marshall McLuhan aus dem Jahr 1967 zu verstehen, wie die Autoren in einem Beitrag für die BBC erläutern.
McLuhan hat als Begründer der Medienwissenschaft Begriffe wie die Gutenberg-Galaxis oder das Globale Dorf geprägt. Er erkannte bereits in den 60er Jahren, wie sehr sich die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit und die soziale Interaktion durch die Nutzung von Technologien verändern. Sein Slogan „The medium is the message“ bzw. „Das Medium ist die Botschaft“ zielte darauf ab, dass unsere Wahrnehmung durch das jeweilige Medium, mit dem Inhalte aufgenommen werden, beeinflusst wird. Durch einen Druckfehler wurde später aus dem Begriff Message die Massage und passte McLuhan sehr gut in sein Konzept. Er ließ den Begriff einfach so stehen.
Wenn ich diesen Slogan auf meine Art ein Buch zu rezipieren, übertrage, leuchtet es ein, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ich es als gedrucktes, als E-Book oder als Hörbuch aufnehme. Es werden unterschiedliche Sinne massiert.
Was erwartet uns nun in diesem Update? Wir öffnen gewissermaßen eine E-Mail, denn das Buch beginnt mit dem PING, das einen Posteingang anzeigt. Da sich unsere Aufmerksamkeitsspanne durch den permanenten Konsum digitaler Inhalte verkürzt hat, ist die knappe Form der Darstellung perfekt auf uns zugeschnitten. Das vorliegende Medium ist ein Konglomerat aus Gedankenschnipseln, Slogans und Botschaften, die mit typografischen Elementen, von Künstlern und Grafikdesignern gestaltet, untermauert werden.
Unser Nutzungsverhalten hat widersprüchliche Auswirkungen: Wir verschwenden unsere Zeit beim Surfen und fühlen uns trotz der digitalen Anwesenheit vieler Menschen einsam. Ohne Internet fühlen wir uns aber noch einsamer.
Wir sind süchtig nach der digitalen Welt. Wir schaffen es nicht einmal, zwei Urlaubstage offline zu sein. Wir lechzen nach Likes und Followern.
Was verlieren wir, wenn wir so viel Zeit in der digitalen Welt verbringen? Verstehen wir noch die Realität? Haben wir noch eine echte Identität oder wird sie durch eine virtuelle Identität abgelöst?
Unser Medienverhalten lässt sich auch an einem gesteigerten Energieverbrauch ablesen. Das wird ökologische Konsequenzen haben. So wird nicht nur unser Denken, sondern auch der Planet verändert. Dieser Aspekt wird in dem Buch allerdings nur angerissen.
Es ist aufschlussreich, die Aussagen auf sich wirken zu lassen und sich zu fragen, wie die Menschen noch vor wenigen Jahren ohne das Internet und die vielen elektronischen Helferlein zurechtkamen. Aber wohin führt dieses veränderte Verhalten? Welche Gefahren gehen von den Technologien aus? Sind sie entmenschlichend oder Ausdruck unserer Menschlichkeit?
Der Untertitel des Buches lautet Leitfaden für die extreme Gegenwart, aber eigentlich ist es kein Leitfaden, sondern vielmehr ein Kunstprojekt, das Denkanstöße gibt, eine Art Zustandsbeschreibung unserer digitalen Gegenwart und eine Vorwegnahme der Zukunft. Es irritiert und fasziniert zugleich! Es massiert die Sinne!
Am Ende stehen wir vor der Möglichkeit, den Text dieser E-Mail in den Papierkorb zu verschieben. Davon möchte ich abraten!
Shumon Basar/Douglas Coupland/Hans Ulrich Obrist: Erschütterung der Welt – Leitfaden für die extreme Gegenwart
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Eichborn 2015, 256 Seiten
ISBN 978-3-8479-0588-2
Leseprobe
Zu welcher Entscheidung könnte das Buch dich treiben?
Den ganzen Social Media Kram (Twitter, FB) zu lassen – das sind Zeitfresser, da liest man zuviel Quatsch und verzettelt sich in unnötige Diskussionen. Redukation des Digitalen nur auf den Blog. Hier zudem durch Mitautoren weniger Besprechungen, weniger Präsenz. Das Bloggen war anfangs ein gutes intellektuelles Gegengewicht zum beruflichen Dasein, nimmt aber mittlerweile zuviel Zeit ein – und meine berufliche Identitätskrise hat sich dadurch nicht gelöst. Eher hat das Ganze dazu beigetragen, eine Lösung zu vertagen oder einer Entscheidung aus dem Weg zu gehen…
Dann ist es besser, etwas wegzulassen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – was für dich wichtig ist! Vieles im Netz macht zwar Spaß, lenkt aber zu sehr ab.
Ein toller Buchtipp, liebe Petra. Das Buch scheint ja nicht nur inhaltlich so gut in unsere Zeit zu passen (und auch genau „unser“ Thema zu sein) , sondern auch – als Kunstprojekt – sehr ansprechend gestaltet. Ich könnte noch ein schönes Bild dazu beisteuern, das ich hier aber nur beschreiben kann: In der großen Pause stehen fünf, sechs Schülerinnen und Schüler nebeneinander im Flur des Schulgebäudes an die Heizung gelehnt – und jeder blickt auf den Bildschirm des eigenen Smartphones. Zu diesem Bild kann man sich viele tolle Bildunterschriften ausdenklen…
Viele Grüße, Claudia
Die Bildunterschriften sind auch bei mir sofort präsent! Ich frage mich, ob es irgendwann einen gegenläufigen Trend geben wird, eine Art Rückbesinnung auf die Begegnung und Auseinandersetzung mit echten Menschen. Viele müssen es vielleicht erst neu erlernen ;-)
Ich habe immer große Vorbehalte gegenüber kulturpessimistischen Thesen. Zum einen korrelieren sie fast immer mit dem zunehmenden Alter der Verfasser und zum anderen sind sie letztlich historisch nicht haltbar, ja fast immer selbstgefällig. Denn auch unsere Generation – wie alle zuvor mit ihren Niedergangs-Propheten – wird nicht die auserwählte Generation sein, die den Zenit der Kulturgeschichte erleben darf. Auch nach uns werden noch unzählige Kulturschaffende folgen, die Herausragendes hervorbringen werden.
Auch was die aktuelle Mediennutzung betrifft, sollte uns der Blick in die eigene Vergangenheit als TV-Generation mehr Gelassenheit geben. Es ist schon amüsant, dass eine Generation von 50+ sich mokiert über die Smartphone-Nutzung der Jugend, selbst aber durchschnittlich 50% ihre Freizeit vor dem Fernseher verbringt. Was heute der Roman „The Circle“ ist war vor über 150 Jahren „Madame Bovary“.
Betrachten wir doch die aktuelle Begeisterung für die Online-Medien mal durch Kinderaugen. Denn wir sind hier häufig wie Kinder. Damals als Kind habe ich mich – trotz bedenklichen Kopfschütteln der Erwachsenen – phasenweise Dingen (Sport, Spiele, Technik oder Musik) mit einer Intensität gewidmet, über die man heute nur noch lächeln kann.
Das infrage zu stellen, was die Jugend gerade interessant findet und darin eine große Zeitverschwendung oder gar das Ende der Kultur zu sehen, hilft uns sicher nicht weiter. Darin stimme ich dir zu. Im Rückblick richten diese Beschäftigungen nicht unbedingt so viel Schaden an wie befürchtet. Aber noch wissen wir es nicht. Solche Fragen stellt sich jede Generation aufs Neue.
Ich finde es legitim, mit dem künstlerischen Mittel der Übertreibung die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, deren Konsequenzen wir noch nicht absehen können. In dem hier vorgestellten Buch ist das gut gelungen – für meinen Geschmack. Angesichts der Allgegenwart digitaler Techniken muss jeder für sich entscheiden, wie intensiv er sich darauf einlässt. Ich sehe das alles auch gar nicht so verbissen, aber oft denke ich, dass sich die online verbrachte Zeit sinnvoller nutzen ließe.
Ich bin auch kein Evangelist (mehr) der Digitalisierung, wenn auch ich die technischen Möglichkeiten nicht mehr missen wollte. Was wir als entscheidenden Unterschied aus der Geschichte lernen ist die Geschwindigkeit, mit der sich neuen Medientechnik etablieren. Und mit der (heute rasanten) Verbreitung (und Kommerzialisierung) müssen wir jedes Mal feststellen, dass die Medien ein Spiegel der Gesellschaft sind. Einer Gesellschaft, deren Begehren, Interessen und kulturästhetischer Sinn uns überwiegend enttäuscht. Malerei, Buchdruck, Fotografie, Film, Zeitungen, Radio, Fernsehen und jetzt das Internet, sie alle verdanken ihre Verbreitung (ihren Erfolg) immer wieder der überwiegenden Nachfrage nach „Trash“. Und was noch schlimmer für alle Hochkulturhüter ist: Das, was wir gemeinhin als qualitativ wertvoll als Hochkultur erachten, wird von diesem Trash alimentiert. Wir benötigen den Konsum von 99% völlig irrelevanter Kulturprodukte, um 1% relevante zu erhalten. Das Positive dabei: umso mehr Trash, desto mehr kann auch Relevantes entstehen.
Dann suchen wir doch mal die Perlen in dem riesigen Trash-Haufen!
Liebe Petra,
das klingt lesenswert. Und offensichtlich als eine Art Kunstwerk konzipiert. Ich werde mir das Buch auf jeden Fall einmal ansehen.
Kulturpessimistisch habe ich es jetzt nach Deiner Beschreibung nicht empfunden, eher als eine Art Bestandsaufnahme der anderen Art.
Liebe Grüße
Kai
Das trifft es ganz gut, lieber Kai. Bin gespannt, wie es dir gefällt.
Liebe Grüße, Petra