Helen Macdonald: H wie Habicht

Cover Macdonald H wie Habicht

© Ullstein

Helen Macdonald  war schon als Kind von Greifvögeln besessen. Während andere Mädchen mit Puppen spielten, lernte sie Falken zu zähmen. Von ihren Eltern hatte sie für ihr ungewöhnliches Hobby die volle Unterstützung. Vor einigen Jahren starb plötzlich ihr geliebter Vater. Nach dessen Tod verfiel sie in tiefe Trauer, “eine Art Wahnsinn” nennt sie ihren Zustand. Greifvögel verfolgten sie bis in ihre Träume, vor allem Habichte, so dass sie eines Tages beschloss, einen Habicht zu zähmen. Dies gilt als besonders schwierig, denn Habichte sind sehr wild und scheu, aber genau diese Herausforderung war es, die Helen damals brauchte.

In ihrem Buch H wie Habicht beschreibt Helen Macdonald das erste Jahr mit ihrem Habicht Mabel, eine Zeit, in der sie sich immer mehr von den Menschen zurückzieht und sich voll auf die Bedürfnisse des Greifvogels einstellt, getrieben von dem Wunsch, so zu sein wie er:

Ich war am Ende. Irgendetwas tief in mir drinnen versuchte, sich neu zu erschaffen, und das Vorbild dafür saß vor mir, auf meiner Faust. Der Habicht war all das, was ich sein wollte: ein Einzelgänger, selbstbeherrscht, frei von Trauer und taub gegenüber den Verletzungen des Lebens.

Sie erzählt fesselnd, wie sie es allmählich schafft, das Vertrauen ihres Habichts zu gewinnen und den Aktionsradius von ihrer Wohnung immer weiter auf die Felder und Wälder um Cambridge auszudehnen. Dann der beängstigende Moment, als sie Mabel das erste Mal frei fliegen lässt und fürchtet, dass sie nicht zurückkehrt. Doch alles geht gut.

Zum Jagen mit einem Greifvogel gehört auch der Tod. Für Helen besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Füttern des Vogels mit einem bereits toten Küken und dem eigenhändigen Töten der Beute, die Mabel erwischt hat und in ihrer Gegenwart noch fast lebendig verspeist. Der “Blutdurst” des Habichts veranlasst sie zu Reflektionen über das Menschsein, Tod und Gewalt. Irgendwann wird ihr bewusst, dass die totale Identifikation mit dem Habicht keinen Ausweg aus ihrer Trauer bietet.

Eine wichtige Rolle in ihrem Denken spielt der englische Schriftsteller T. H. White, der bei uns vor allem durch seinen Romanzyklus um König Artus, Der König auf Camelot, bekannt ist. Die Autorin kennt seine Werke in- und auswendig. Bereits als Kind las sie fasziniert seinen Bericht The Goshawk über die missglückte Zähmung eines Habichts. Sie war abgestoßen von den Fehlern, die White beging, von den Qualen, die er sich und seinem Habicht aus Unwissenheit zufügte. Er dient ihr als abschreckendes Beispiel. Ihr Buch ist eine persönliche Auseinandersetzung mit Whites Werken und eine Charakterstudie über ihn, kritisch und zugleich voller Mitgefühl. Vor allem kann sie den tiefen Verlust nachempfinden, den White erlebte, als sein Habicht ihm davonflog.

Um Fehler beim Abtragen des Greifvogels zu vermeiden, konsultiert Helen Macdonald Falkner-Bücher aus Vergangenheit und Gegenwart, so dass wir als Leser an die uralte Beziehung zwischen Menschen und Greifvögeln herangeführt werden. Auch die geschärften Sinne des Habichts werden in Helen Macdonalds Schilderungen lebendig:

Was sieht sie?, frage ich mich. Mein Gehirn schlägt Saltos, als ich versuche, mir das vorzustellen, denn ich kann es nicht. Ich habe drei verschiedene Farbrezeptoren in meinem Auge, die jeweils auf Rot, Grün und Blau reagieren. Greifvögel haben wie alle anderen Vögel vier. Mein Habicht sieht Farben, die ich nicht wahrnehmen kann, bis ins ultraviolette Spektrum hinein. Sie sieht auch polarisiertes Licht, kann Thermik sehen, warme Luft, die aufsteigt, Strudel bildet und in Wolken verschwindet. Sie kann sogar die magnetischen Feldlinien sehen, die die Erde überziehen. Sie nimmt das Licht, das in ihre schwarzen Pupillen fällt, mit einer solch erschreckenden Präzision wahr, dass ihr Dinge gestochen scharf erscheinen, die sich in meinem Auge kaum von der allgemeinen Unschärfe absetzen können.

 

Geschickt sind die sachliche und die persönliche Ebene miteinander vermischt. Die Autorin beschreibt die innige Beziehung zu ihrem Habicht, die Abschottung von anderen Menschen, aber auch das allmähliche Begreifen, dass die “Flucht in die Wildnis” kein Heilmittel ist und der Habicht kein Ersatz für den Kontakt mit anderen Menschen.

H wie Habicht hat mich sehr beeindruckt, die Offenheit, mit der Helen Macdonald von ihrer Krise berichtet, ihre spannenden Schilderungen vom Zusammenleben und Trainieren mit dem Habicht Mabel und vor allem ihre klare, schöne Sprache, mal poetisch, mal sachlich. Ein magisches Buch!

Helen Macdonald: H wie Habicht
Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer
Verlag Ullstein 2015, 416 Seiten
ISBN 978-3-7934-2298-3

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13 Kommentare

  1. Liebe Petra,
    das ist schon wieder ein Buch für mich!
    Ich war im letzten Winter auf einem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt bei Schloß Hardenberg. Dort war ein Falkner mit verschiedenen Greifvögeln und als ich mir diese “wilden” Vögel andächtig und aus ungewohnter Nähe betrachtete, sprach mich der Falkner an und bot mir an, einen der Vögel zu streicheln. Ich war überrascht, daß dies überhaupt “erlaubt” war und stimmte begeistert zu.
    Er brachte mir einen Uhu (ca. 50cm hoch) und während er ruhig auf dem Unterarm des Falkners saß, konnte ich nach Anleitung des Falkners das Gefieder streicheln. Das war ein sehr tief berührendes und erfüllendes Erlebnis. Ich war ganz gebannt und hypnotisiert von den ausdrucksvollen Augen und der Gelassenheit des wilden Vogels. Nebenbei bekam ich ein kleines Eulenbioreferat des Falkners zu hören; z.B. weiß ich jetzt, daß Uhus leiser fliegen als Fruchtfliegen!
    Als ich später in einem Kaufhaus stand, kam mir die überbunte, überfüllte Warenwelt noch viel leerer vor als ich dies ohnehin schon immer empfand. Nichts konnte mich zum Kauf verlocken, kein DING hatte mir etwas zu bieten. Ich war reich, lebenserfüllt und NATURBESCHWINGT sowie vollkommen zufrieden.
    So kann einen der Kontakt mit einem Naturwesen ins wirkliche Leben verzaubern. Und für die Autorin des von Dir besprochenen Buches muß dies in noch viel größerem Ausmaße gelten, da sie über einen langen Zeitraum in VERBINDUNG mit “ihrem” Habicht war.
    Nachtschwärmerische Grüße von
    Ulrike

    • Das ist ja eine tolle Erfahrung, liebe Ulrike! So etwas öffnet einem die Augen für eine ganz andere Welt, zu der wir den Kontakt schon fast verloren haben. In diesem Sommer konnte ich beobachten, wie ein Turmfalkenpaar ganz in der Nähe seine Jungen aufzog. Ich übe mich darin, die verschiedenen Laute zu interpretieren. Das ist wirklich faszinierend!
      Liebe Grüße, Petra

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  7. Hallo Petra ich glaube das Buch könnte mir gefallen, weil Tiere einem so viel geben können ☺

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