Karin Bojs: Meine europäische Familie – Die ersten 54.000 Jahre

Cover Bojs Europaeische Familie

© Theiss

Woher stammen wir Europäer? Welche Spuren hinterließen die Neandertaler? Wann wurden aus Jägern und Sammlern sesshafte Bauern? Wie entwickelte sich unsere Kultur? Die schwedische Wissenschaftsjournalistin Karin Bojs suchte nach den Wurzeln ihrer Familie. Doch ihre Reise führte sie zu den Ursprüngen der Geschichte Europas. Ihr Buch Meine europäische Familie – Die ersten 54.000 Jahre ist eine spannende Mischung aus Ahnenforschung, Archäologie und Genetik.

Mithilfe verschiedener DNA-Tests konnte Karin Bojs ihre Vorfahren in eine Zeit vor etwa 54.000 Jahren zurückverfolgen, als die modernen Menschen sich im Nahen Osten, vermutlich in Galiläa, mit den Neandertalern vermischten. Etwa 2 Prozent DNA haben heutige Europäer mit ihnen gemein! Ihre Recherchen zur Familiengeschichte bindet Karin Bojs geschickt in die Geschichte der Menschheit von der Frühgeschichte bis in die Neuzeit ein. Sie folgt den verschiedenen Wanderungswellen vom Nahen Osten quer durch Europa und der Entwicklung von der Jäger- und Sammler-Gesellschaft zur Landwirtschaft als dominanter Lebensform. Auf den Spuren ihrer Ahnen besuchte sie viele Museen und archäologische Stätten, darunter das Sonnenobservatorium von Goseck, das älter ist als die ägyptischen Pyramiden, und Çatalhöyük, eine der ersten großen Siedlungen. Sie stellt berühmte Skelett-Funde und Fundstücke vor, die die Lebensweise und den jeweiligen Wissensstand der Menschen bezeugen.

Klimatische Veränderungen verwandelten die Vegetation, lösten Wanderungswellen aus, eröffneten neue Lebensräume und führten zu moderneren Jagdmethoden, einer Anpassung der Ernährung und Bekleidung. Sie waren Auslöser für viele Fortschritte, vielleicht auch für die Erfindung der Landwirtschaft. Erste Spuren einer bäuerlichen Lebensweise finden sich gegen Ende der Eiszeit, vor etwa 11.500 Jahren im Nahen Osten. Einwanderer brachten sie bis nach Zentral- und Nordeuropa, ein schleichender Prozess, bei dem die Jäger- und Sammler-Kultur allmählich aufgegeben wurde. Dieser Punkt ist eine der großen Kontroversen in der Archäologie. Traditionelle Archäologen trauen den DNA-Analysen nicht und lehnen diese Theorie als “Migrationismus” ab. Sie plädieren für eine eigenständige Entwicklung der Landwirtschaft durch in Europa ansässige Jäger und Sammler. Karin Bojs sprach mit Experten verschiedener Fachrichtungen in mehreren Ländern. In ihrem Buch erläutert sie verschiedene Denkrichtungen und wägt sorgfältig ab, was ihr plausibler scheint.

In Meine europäische Familie werden viele europäische Kulturen lebendig, zum Beispiel das Gravettien, das für seine üppigen Frauenstatuetten aus Elfenbein berühmt ist, das Cro-Magnon und seine beeindruckenden Höhlenmalereien, das inzwischen im Meer versunkene Doggerland mit seinen ergiebigen Jagdgründen oder die osteuropäische Starčevo-Kultur, die die Bandkeramik entwickelte. Packend erzählt die Autorin von der Domestikation von Hunden und Pferden, vom ersten Bier, das vermutlich in Göbekli Tepe gebraut wurde und von den Fortschritten bei der Metallverarbeitung von Kupfer zu Bronze zu Eisen.

Durch DNA-Untersuchungen hat sich die Archäologie in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Diese Methoden haben schon zu erstaunlichen Erkenntnissen und der Neuinterpretation vieler archäologischer Funde geführt. Daher sind in diesem Buch einige Begriffe aus der Genetik erforderlich. Karin Bojs webt sie nach und nach ein, so dass man nicht auf einmal mit Details überfrachtet wird. Ihre eigene Abstammung erforschte sie mithilfe der mitochondrialen DNA, die über die mütterliche Linie weitergegeben wird. Weitere Anhaltspunkte lieferte der DNA-Test eines Onkels. Mit dessen Y-DNA konnte die Autorin auch der väterlichen Linie folgen. So ließ sich feststellen, welcher Haplogruppe sie angehört. Haplogruppen bestehen aus Personen mit gleichen Mutationen im Erbgut. Sie dienen zur Feststellung der gemeinsamen Abstammung verschiedener Individuen und geben Aufschluss über die Wanderungen der Menschen über die Kontinente. Bojs suchte aufgrund solcher Marker in ihrer DNA auch beim Volk der Samen und bei den Wikingern nach ihren Wurzeln. Sie stellt klar, wie wichtig der Beitrag vieler Familienforscher zum Verständnis europäischer Geschichte ist, dank neuer Methoden, die jedem zugänglich sind. Durch ihre Kombination aus Familienforschung und europäischer Geschichte bleibt man als Leser gern am Ball!

Im Anhang geht Karin Bojs kurz auf das Thema DNA-Tests für Privatpersonen ein und erläutert nochmals die wichtigsten Fachbegriffe. Sie hat sogar einige touristische Hinweise für Reisen zu den erwähnten Museen und archäologischen Fundstätten parat. Einziges Manko: auf Abbildungen und Kartenmaterial wurde in der deutschen Ausgabe leider verzichtet.

Meine europäische Familie – Die ersten 54.000 Jahre ist ein ungeheuer spannender und unterhaltsamer Rückblick auf 54.000 Jahre europäischer Geschichte voller faszinierender Details. Karin Bojs hat bei ihren Recherchen erstaunliche Verbindungen aufgedeckt, die im genetischen Erbe vieler Europäer zu finden sind. Bemerkenswerter als die Unterschiede zwischen verschiedenen Volksgruppen sind diese Gemeinsamkeiten. Aus der “Fusion” des Erbguts und des Wissens verschiedener Kulturen entstand unsere europäische Familie.

Karin Bojs: Meine europäische Familie – Die ersten 54.000 Jahre
Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Inge Wehrmann
Theiss Verlag 2018, 431 Seiten
ISBN 978-3-8062-3674-3 gebunden
ISBN 978-3-534-27329-4 wbg Paperback
Leseprobe

Wissensbuch des Jahres 2018 in der Kategorie Überraschung

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6 Kommentare

  1. Haplogruppe klingt spannend.
    Erstaunlich immer wieder, welche Werkzeuge man zur Verfügung hat!

  2. Das Buch muss ich mir endlich mal besorgen, kein Thema interessiert mich mehr!
    Das mit den Abbildungen ist schade, mal sehen, ob die englische Ausgabe da mehr hergibt.

    • Die englische Ausgabe erschien bei Bloomsbury und enthält farbige und schwarz-weiße Abbildungen. Vorbildlich!

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