Seit bekannt wurde, dass Svante Pääbo, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, den Nobelpreis für Medizin 2022 erhält, sind Neandertaler wieder in aller Munde. Denn Pääbo ist ein Pionier der Paläogenetik und entschlüsselte das Erbgut des Homo neanderthalensis. Da kommt ein brandaktuelles Buch über diese Menschenart gerade recht: Der verkannte Mensch von der britischen Archäologin Rebecca Wragg Sykes. Lange Zeit galten sie als primitive Steinzeit-Menschen mit mehr Muskeln als Hirn, ohne Sprache und ohne Kultur, dem Homo sapiens hoffnungslos unterlegen. Doch aktuelle Forschungen ergeben ein anderes Bild! Die Autorin stellt unser bisheriges Wissen auf den Prüfstand und berichtet von spannenden Erkenntnissen aus der Archäologie.
Wragg Sykes behandelt verschiedene Aspekte: den Körperbau des Homo neanderthalensis, seine Kindheit, den Umgang mit Steinen und weiteren Materialien, die Ernährung, seine nomadische Lebensweise und die Bedeutung von Geburt und Tod. Der Lebensraum der Neandertaler erstreckte sich über ganz Eurasien. Sie besiedelten diesen Raum bereits vor 450.000 Jahren und verschwanden vor etwa 40.000 Jahren. Die Autorin berichtet unter anderem von archäologischen Fundstätten in Frankreich, Deutschland und Spanien, dem Irak und Marokko.
Wie lebten die Neandertaler in den Höhlen, die sie zeitweise bewohnten? Woher stammen die Steine, aus denen sie Werkzeuge herstellten, und wie wurden sie bearbeitet? Was kann man aus den Feuerstellen herauslesen? Was verraten ihre Knochen über Ernährung und Gesundheit? Wie sah die Aufgabenverteilung von Männern und Frauen aus und welches Verhältnis hatten sie zu Liebe und Sexualität? Schon das kleinste Knochenfragment oder der Zahnstein bringen neue Erkenntnisse, dank der Paläogenetik und anderer moderner Methoden!
In früheren Jahrhunderten wurde die Anordnung und Schichtung der Objekte am Ausgrabungsort oft vernachlässigt. Neue Untersuchungen an alten Fundstätten helfen bei der Korrektur von Fehldeutungen. Doch vieles bleibt Spekulation, da nur Bruchstücke erhalten sind. Die Autorin schlägt verschiedene Deutungen zur Lebensweise der Neandertaler vor und überträgt Wissen über andere Menschenarten, Schimpansen und Bonobos behutsam auf die Neandertaler. So erhalten wir faszinierende Einblicke in die Arbeit von Archäolog:innen. Aus Tausenden Puzzlestücken und Interpretationsansätzen versuchen sie ein schlüssiges Gesamtbild zu modellieren.
Heute ist erwiesen, dass die Neandertaler gar nicht primitiv waren. Es waren robuste Menschen, die Wüsten und Meeresküsten, Steppen und Gebirge besiedelten. Sie passten sich an Warm- und Eiszeiten an, lebten in familiären Netzwerken und waren geschickte Handwerker:innen. Sie erfanden und optimierten, reparierten und recycelten Werkzeuge und sie benutzten mehrteilige Waffen für die Jagd. Bearbeitete Vogelfedern, Muscheln und andere Artefakte deuten auf einen ausgeprägten Schönheitssinn der Neandertaler hin. Sie gingen sexuelle Beziehungen mit den modernen Menschen ein und waren dem Homo sapiens in vieler Hinsicht ebenbürtig. Rebecca Wragg Sykes nennt sie im Originaltitel Kindred: Verwandte, denn sie sind uns ähnlicher als gedacht. Ein Bruchteil ihrer DNA steckt in allen Menschen Europas. Warum sie ausgestorben sind, ist unbekannt und wird sich vielleicht niemals aufklären.
Der verkannte Mensch ist ein faszinierender Ausflug in die Menschheitsgeschichte! Ein spannendes Buch, das uns auf den aktuellen Forschungsstand über Neandertaler bringt! Vermisst habe ich nur eine Karte der Fundstätten und einen chronologischen Überblick, denn man verliert sich gelegentlich in dieser Erzählung quer durch die Jahrtausende.
Nominiert als Wissensbuch des Jahres 2022 in der Kategorie ÜBERBLICK
Rebecca Wragg Sykes: Der verkannte Mensch – Ein neuer Blick auf Leben, Liebe und Kunst der Neandertaler
Originaltitel: Kindred. Neanderthal Life, Love, Death and Art
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Goldmann Verlag 2022, 512 Seiten mit 8-seitigem vierfarbigen Bildteil
ISBN 978-3-442-31656-4
Leseprobe
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Dieses Cover ist ja herzallerliebst. Ich finde ja diesen Blick in die Urzeit unheimlich spannend, lese auch gerade „Urwelten“ von Thomas Halliday. Danke für diesen interessanten Lesetipp. Viele Grüße
Ist ja auch spannend, welche Erkenntnisse durch neue Methoden gewonnen wurden! Urwelten steht noch auf meiner Wunschliste. Bin gespannt, was du dazu schreibst
Also, das Cover ist wirklich ein echter Hingucker;)
LG
Luisa
Daß ein Bruchteil ihrer DNA in allen Menschen Europas steckt, war mir auch bekannt.
Warum sie ausgestorben sind?!
Muss es immer das Darwinsche Prinzip gewesen sein?
Wie groß und wie verteilt war denn die Population?
Wie groß die Population war, ist schwer zu sagen. Die Anzahl der erhaltenen Skelette und Knochen ist ja recht klein. Sie lebten über ganz Eurasien verteilt, über einen Zeitraum von vor 450.000 Jahren bis vor 40.000 Jahren, vermutlich in Gruppen von 10 bis 20 Personen.
Besonders faszinierend fand ich Einblicke in die Forschungsmethoden — verblüffend, was man allein an Zahnstein und Kratzern auf dem Zahnschmelz alles ablesen kann! Oder was eine Höhle alles verrät, wenn sie sorgfältig ausgegraben wird! Und eine Überraschung ganz anderer Art hatte das Buch auch parat: Viele der Funde wurden in Frankreich gemacht, die Autorin hat auch viel dort gearbeitet, und als ich mir beim Übersetzen Bilder von den Grabungsstätten angesehen habe, war ich erstaunt, wie schön die Landschaft ist! Herzliche Grüße!
Ja, was die Autorin über archäologische Methoden berichtet, ist wirklich spannend! In der deutschen Ausgabe gibt es ein paar Fotos u.a. aus Le Moustier im Vézère-Tal, wo es besonders viele Fundstätten gibt: man sieht zum Beispiel Kratzspuren auf einem Zahn, Schädelrekonstruktionen und Abriebspuren und Pigmente auf Muscheln. Erstaunlich, was sich daraus alles schließen lässt!
Herzliche Grüße nach Mexiko!
Danke für die Buchvorstellung und Rezension des Buches „Der verkannte Mensch“ von Rebecca Wragg Sykes. Das Buch scheint wirklich lesenswert zu sein. Ich lese gerne Wissensbücher und habe aus diesem Grund diese Buchrezension reingelesen.