Bei Citizen Science kann jeder mitmachen: Vögel beobachten, den Sternenhimmel erforschen, wissenschaftliche Daten sammeln und auswerten, Artikel für Wikipedia verfassen – das alles im Dienste der Wissenschaft. Der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke hat sich intensiv mit Citizen Science auseinander gesetzt, viele Projekte durchgeführt und in Fachaufsätzen beschrieben, so dass er in Deutschland als der Experte zum Thema gilt. In seinem neuen Buch Citizen Science bietet er einen allgemein verständlichen Einstieg in die Citizen Science und plädiert für ein erweitertes Wissenschaftsverständnis unter Einbeziehung der Laienwissenschaft.
Viele bahnbrechende Erkenntnisse haben wir Laienforschern zu verdanken, die ein spezielles Erkenntnisinteresse hatten oder einfach von der zutiefst im Menschen verankerten Wissbegier getrieben waren: Charles Darwin, der den Mechanismus der Evolution entdeckte, Gregor Mendel, der die Gesetzmäßigkeiten der Genetik bei Pflanzen erforschte, Anton van Leeuwenhoek, der als erster Mikroorganismen in den Wassertropfen unter seinem Mikroskop entdeckte und viele andere. Der Ursprung aller wissenschaftlichen Betätigung ist also Citizen Science.
Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat sich die Wissenschaft zunehmend von ihren Wurzeln entfernt und entwickelte sich zur Professional Science. So wie Wissenschaft heute an Universitäten und in Forschungseinrichtungen ausgeübt wird, ist sie stark professionalisiert und institutionellen Zwängen unterworfen. Von freier Wissenschaft und Freude am Forschen kann oft gar keine Rede sein. Finke kritisiert diesen Trend, denn damit geht eine Abgrenzung zu den Laienforschern und zur Gesellschaft generell einher. Wertvolles Potential wird verschenkt.
Dem gegenüber stehen die Aktivitäten von Laien, die sich als Hobby oder ehrenamtlich mit der Erforschung eines Themas beschäftigen. Dies ist der Bereich der Citizen Science oder grob übersetzt: Bürgerwissenschaft. Der Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Natur und Umwelt und ist oft regional begrenzt. Aber auch in vielen anderen Disziplinen werden Hobbyforscher tätig.
Was die Laienforschung von der professionellen Forschung unterscheidet, ist vor allem die freie Themenwahl nach eigenen Interessen und die Nähe zum alltäglichen Leben. Der praktische Nutzen, z.B. der Umweltschutz, die Bewahrung von Dialekten oder das Wissen um die Heimatgeschichte, spielt eine wichtige Rolle. Viele Projekte entstehen, weil der akademische Betrieb sie nicht weiterverfolgen kann oder will. Wo die Experten auf finanzielle Förderung angewiesen sind, um ein Projekt zu verwirklichen, sind die Laien unabhängig und opfern vor allem ihre Freizeit.
Oft ist auch ein politischer Zweck oder ein gesellschaftliches Engagement mit Citizen Science verbunden. Finke nennt als Beispiele den Kampf gegen die Atomkraft oder gegen den Bahnhof Stuttgart 21, wo sich Laien das nötige Wissen angeeignet haben, um gehört zu werden und um sich gegen die Experten durchzusetzen. Dieses Engagement als Wutbürger oder Activist Researcher hat in den letzten Jahren zugenommen.
Finke kritisiert, dass sich die Professional Scientists immer stärker auf einzelne Fachgebiete spezialisieren. Bei wachsender Komplexität geht aber oft der Gesamtüberblick verloren. Durch diese Fixierung auf ganz spezielle Aspekte und eine starke Theorielastigkeit wird zugleich jegliche Kreativität erstickt. Auch der Publikationszwang unter Wissenschaftlern ist ein großes Hemmnis für eine freie Wissenschaft.
Die Laienforscher stehen nicht unter solchen Zwängen. Sie sind laut Finke eher in der Lage, über den Tellerrand zu schauen und alles miteinzubeziehen, was nützlich sein könnte. Sie sind auch keinen Paradigmen verpflichtet, die sie einschränken könnten. Daher plädiert Peter Finke für eine stärkere Kooperation zwischen etabliertem Wissenschaftsbetrieb und Laienforschern, um die Schwächen des akademischen Betriebs auszugleichen.
Wichtige neue Felder für die Betätigung der Citizen Science sieht der Autor bei der Integration von Minderheiten, bei Problemen des demografischen Wandels oder bei der Erforschung von Technikfolgen. Hier gibt es viele Probleme, die in der Professional Science nicht genug Beachtung finden. Finke appelliert vor allem an die Politik, solche Projekte zu ermöglichen und zu fördern. Eine bessere, gerechtere Gesellschaft ist seiner Meinung nach nur mithilfe des „unterschätzten Wissens der Laien“ möglich.
Mir war vor der Lektüre gar nicht klar, wie weit man den Begriff Wissenschaft fassen kann und wie einfach es ist, als Laie wissenschaftlich aktiv zu sein! Dieses Buch zeigt viele Möglichkeiten der wissenschaftlichen Betätigung auf. Peter Finke nennt uns hilfreiche Webseiten, auf denen man geeignete Projekte finden und sich weiter informieren kann. Denn die digitale Gesellschaft bietet heute völlig neue Möglichkeiten der Teilhabe und Vernetzung mit Gleichgesinnten. Für jeden ist etwas dabei. Eine kleine Auswahl aus dem Buch habe ich hier zusammengestellt:
http://www.citizen-science-germany.de/
http://www.buergerschaffenwissen.de/
http://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/citizen-science.html
Peter Finke legt Wert darauf, die Begrifflichkeiten klar zu definieren und die unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche mit ihren Stärken und Schwächen ausgewogen darzustellen. Trotz der vielen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen ist sein Buch Citizen Science gut verständlich und mit viel Engagement verfasst. Es kann einen wichtigen Beitrag leisten für die bessere Verankerung der Wissenschaft in der Mitte der Gesellschaft. Zugleich kann es den Wissenschaftlern deutlich machen, dass Citizen Science keine Konkurrenz, sondern eine Bereicherung für uns alle darstellt.
Citizen Science ist übrigens auch eines der Schwerpunktthemen im Wissenschaftsjahr 2014, über das ich hier bereits berichtet habe.
Peter Finke: Citizen Science – Das unterschätzte Wissen der Laien
oekom Verlag 2014
ISBN 978-3-86581-466-1
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