Ein großartiger Roman über Trauer, Wissenschaft, Liebe und Kunst.
Jeanette ist Astronomin. Ihr Schwerpunkt sind alte Galaxien aus der Frühzeit des Universums. Kurz nach ihrer Promotion macht sie an einem Teleskop in Chile eine unglaubliche Entdeckung, die das Urknall-Modell über die Entstehung des Universums infrage stellt. Obwohl die Daten noch nicht bestätigt werden können, bringen sie Jeanette eine feste Stelle an der Universität von Edinburgh ein.
Nach der Publikation beginnen die Probleme, denn von Anfang an werden Wahrheitsgehalt und Aussagekraft ihrer Daten in Zweifel gezogen. Jeanette will ihre Entdeckung nicht bewerten, kann sich dem Zwang dazu aber nicht entziehen. Als sie auch noch von ihrer Geliebten Paula verlassen wird, gerät ihr Leben aus der Bahn und das Trauma ihrer Kindheit holt sie wieder ein.
Als Zehnjährige verlor Jeanette ihre Schwester Kate, die bei einem Unfall ertrank. Kate, die erfolgreiche Schwimmerin, stand immer im Mittelpunkt des Interesses. Das Familienleben war um deren sportliche Wettkämpfe herum organisiert. Nach Kates Tod sind Fotos und persönliche Gegenstände verschwunden, alle Spuren der Schwester wurden ausgemerzt. Die Eltern ließen Jeanette mit ihrer Trauer allein, waren nur mit sich selbst beschäftigt und verweigerten ihr jegliches Interesse.
Seit ihrer Kindheit hat Jeanette Zuflucht und Trost in der Beschäftigung mit der Natur und der Himmelsbeobachtung gefunden und darin auch ihre berufliche Erfüllung gesucht.
„Sie kennt sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Sterne, der Galaxien, des Universums selbst aus. Sie weiß, wie man das Licht des Nachthimmels entschlüsselt. – Es bedeutet, daß sie entkommen ist. Dem Zuhause, der Depression des Sofas, dem radioaktiven Leuchten des Fernsehers, dem außerirdischen Vakuum im Haus und der Zigarettenasche, die auf alles niederrieselt wie Erde auf einen Sarg.“
Pippa Goldschmidt, die Autorin des Romans, ist selbst promovierte Astronomin mit einem ähnlichen Forschungsgebiet wie Jeanette. Ihr gelingt es wunderbar, ihr Fachwissen in den Roman einfließen zu lassen, ohne unkundige Leser zu überfordern. Vor allem setzt sie ein paar Seitenhiebe auf den akademischen Betrieb: auf erstarrte Rituale, den Kampf um Anerkennung und berufliche Posten, den Zwang, langweilige Papers zu schreiben, mit Geldgebern und Studenten zurechtzukommen, Routinearbeiten, um das herauszufinden, was man prognostiziert hat, statt unvoreingenommen etwas Neues entdecken zu können. Inzwischen widmet sich die Autorin ganz dem Schreiben von Kurzgeschichten, natürlich mit wissenschaftlichem Hintergrund. Dies ist ihr erster Roman, und der ist stark und macht süchtig!!!
Mit klaren schnörkellosen Sätzen wird eine unbehagliche Stimmung aufgebaut. Jeanettes Vorgesetzter an der Uni trägt den Spitznamen „der Todesstern“, eine frühere Geliebte bleibt namenlos und wird nur als „die Eisfrau“ bezeichnet. Jeanette selbst wirkt spröde, eher abweisend und nicht gerade empathisch. Sie hat etwas vages, ambivalentes anderen Menschen gegenüber, zwischen Nähe und Distanz. Eine dumpfe Trauer schwingt immer mit, wird aber nie ausgesprochen. Ihre Geliebte Paula, eine Künstlerin, schafft es, diese Abwesenheit, dieses Ungesagte in einem Portrait von Jeanette festzuhalten.
In der Krise wird die Auseinandersetzung mit dem unbewältigten Tod ihrer Schwester Kate immer wichtiger. Die zeitlichen Ebenen des Romans wechseln zwischen Heute und Damals. Je mehr der Leser über Jeanettes Verlust erfährt, umso mehr kann er nachvollziehen, warum Beziehungen zu anderen Menschen so schwierig für sie sind. Das Desinteresse der Eltern, der Versuch, die Umstände des Todes ihrer Schwester zu verstehen, weitere Verluste, vor allem das totale Schweigen über die Schwester – all das wirkt nach und prägt ihre Art, mit anderen Menschen und ihren Problemen im Beruf umzugehen. Sie sondert sich immer mehr ab und vergräbt sich schließlich in ein neues Projekt – die Leere im Weltraum!
„Sie ist nicht überrascht. Ihr ist bei ihrem letzten Projekt klar geworden, daß es Leerräume, sogenannte Voids, im Universum gibt. Galaxien können nicht in Voids entstehen, weil es dort nicht genug Masse gibt. Sie hat jetzt ihren eigenen Leerraum. Sie ist nicht genug, um andere anzuziehen.“
Es ist bezeichnend für Jeanette, dass sie gerade nach der Leere im Universum sucht, wo doch die Leere und das Unsichtbare in ihrem Leben einen so großen Anteil haben.
Trotz all der düsteren Aspekte ist dieses Buch nicht deprimierend. Es zieht in den Bann durch seine sprachliche Kraft, durch die Wahnsinnsmetaphern für das Schweigen, die Leere, Stille oder Abwesenheit. Das Rätsel um den Tod von Jeanettes Schwester lässt einen nicht los. Immer wieder war ich fasziniert von den eindringlichen Bildern, die die Autorin geschaffen hat. Ein großartiger Roman über Trauer, Wissenschaft, Liebe und Kunst. Welch ein Glück für uns Leser, dass Pippa Goldschmidt sich der Literatur zugewandt hat!
Pippa Goldschmidt: Weiter als der Himmel
Aus dem Englischen von Zoë Beck
Weidle Verlag 2015, 284 Seiten
ISBN 978-3-938803-65-3
Der Roman liegt schon auf dem Stapel, mich faszinierten schon die Verlagshinweise. Nun, nach Deiner noch mehr Leselust weckenden Besprechung, freue ich mich richtig auf die Lektüre. Spätestens in den Sommerferien… :-). — Was Du zum Unibetrieb schreibst, das zeigt sich ja schon sp plastisch geschildert auf den ersten Seiten, bei dem Vortrag Jeanettes vor der ziemlich schläfrigen und völlig uninteressierten Zuhörerschaft (ich musste schon ein mal ein bisschen hineinschnuppern in den Roman).
Viele Grüße, Claudia
Vielen Dank, dass du mich an die Leseprobe auf der Verlagsseite erinnerst. Ich habe sie gleich mal hier verlinkt, damit andere auch mal reinschnuppern können :-).
Wow, diese Rezension hat mich wirklich total überzeugt – das Buch brauche ich!
Normalerweise warte ich ja, bis Bücher gebraucht und billiger erhältlich sind, aber das werde ich wahrscheinlich einfach bestellen. Wenn ich könnte, würde ich mich jetzt sofort hineinstürzen.
Freut mich, dass es dich anspricht! Auf richtig gute Bücher kann ich auch nicht lange warten.
wunderbar, deine Buchempfehlungen. LG
Danke :-)
Oh, oh ein must have . Rezension und Buch locken gleichernaßen. Merci!
Tolle Rezension, sehr einfühlsam und neugierig machend. Ich bin bereits glückliche Besitzerin des Buches, nun wandert es im Stapel ganz nach oben :-)
Viel Vergnügen beim Lesen!
Hmm, darf ich skeptisch sein? Werden die Phänomene, die Jeanette am Nachthimmel entdeckt, „ordentlich“ erklärt oder überwiegt die menschliche Tragödie (Tod der Schwester)? Gibt es ein spannendes Ende, oder bleiben „nur“ die stimmungsvollen Bilder?
Versteh mich nicht falsch, aber seit „Ich und die Menschen“ von Matt Haig, bin ich etwas vorsichtiger geworden. Allerdings ist die Autorin „vom Fach“, könnte mich also durchaus überzeugen, also ähnlich wie „Contact“ von Carl Sagan (vielleicht etwas hölzern).
Leider habe ich wenig Möglichkeiten, mir vorab das Buch zu leihen. Die Leseprobe war nicht sehr ergiebig und die Leseinseln in den Buchhandlungen werden immer knapper…
Skepsis ist immer gut, liebe Utiii! Dies ist kein Roman, in dem du explizit etwas über Astronomie lernen kannst. Wissenschaftliche Erklärungen gibt es aber, so weit sie für das Verständnis des Kontextes relevant sind, so wie bei dem Zitat über Voids, manchmal auch ausführlicher, z.B. wenn Jeanette Gespräche mit ihren Studenten führt. Man wird als Leser also nicht im Dunkeln gelassen.
Es ist ein Buch, in dem man einiges über den Alltag an einer Forschungseinrichtung oder Uni erfahren kann, so wie ihn auch die Autorin erlebt hat. Die Spannung findet man eher in dem Unaufgeklärten und der Frage, wie es weitergeht. Es ist eine literarische Auseinandersetzung mit einer persönlichen Krise, bei der aber die Astronomie als Beruf, den die Protagonistin sich ausgesucht hat, eine sehr wichtige Rolle spielt.
Ich kenne auch Bücher, in denen Begriffe aus der Wissenschaft dem Leser als schmückendes Beiwerk an den Kopf geknallt oder gar als missglückte Metaphern benutzt werden. So war das in diesem Buch nicht. Für mich war es Sprache zum Genießen!
Jo, ich glaube das hilft mir! Ich danke Dir!
Liebe Petra,
das klingt nach einer spannenden Mischung – und wenn es vom Weile Verlag ist und Du es so positiv besprichst, kann es nicht schlecht sein. Das Thema ist gerade allerdings derzeit nicht so meins und vor allem habe ich noch sooo viele Bücher auf dem Stapel… als kommt es ins Notizbuch auf die Liste der Bücher, die man unbedingt lesen sollte, wenn man mal Zeit hat…
Liebe Grüsse
Kai
So ein Notizbüchlein habe ich auch, lieber Kai. Und irgendwann kommt dann der richtige Zeitpunkt für die dort festgehaltenen Buchtipps.
Der Weidle Verlag ist auch mir in letzter Zeit sehr positiv aufgefallen. Gerade bei vielen Blogs häufen sich die tollen Besprechungen. Den Verlag sollten wir unbedingt im Auge behalten ;-)
Liebe Grüße,
Petra
Hallo Petra, erst jetzt habe ich Deine Besprechung gelesen und mich sehr daran erfreut. Ich habe „Weiter als der Himmel“ ebenso begeistert und fasziniert verschlungen wie Du. Falls Du meine Besprechung noch nicht kennen solltest. Hier in aller Bescheidenheit der Link: http://lustauflesen.de/goldschmidt-weiter-als-der-himmel/
Pippa durfte ich bei der Lesung in Berlin kennenlernen. Sie ist wirklich eine tolle Frau und eine großartige Autorin.
Und natürlich habe ich beim „Wissensbuch des Jahres“ auch schon für sie gestimmt.
lg_jochen
Vielen Dank für den link zu deiner tollen Rezension! Der Roman ist wirklich sehr beeindruckend und hat deine Stimme verdient!