In den Überschwemmungsgebieten des Amazonas in Südamerika stehen die Bäume monatelang unter Wasser. Wenn die Früchte dieser Bäume reif sind, fallen sie ins Wasser, wo sie schon von hungrigen Fischen erwartet werden. Die Fische verdauen die Samen und scheiden sie an anderer Stelle wieder aus. Wenn das Wasser sich zurückzieht, können sie keimen. So etwas nennt man Verdauungsverbreitung. Die klassischen Partner dafür sind Vögel, aber die Natur hat auch andere Wege gefunden.
Dies ist eines der ungewöhnlichen Beispiele für die Beziehungen zwischen Tieren und Pflanzen, die der Schweizer Biologe Ewald Weber in seinem Buch Der Fisch, der lieber eine Alge wäre zusammengetragen hat.
Schlecht ergeht es Bäumen wie dem in Nordamerika beheimateten Milchorangenbaum. Die Tiere, die sich auf seine großen Früchte spezialisiert hatten, waren vermutlich große Säuger wie das Mastodon und das Riesenfaultier. Seit dem Auftauchen des Menschen vor etwa 13.000 Jahren sind sie ausgestorben. Die Milchorangen sind für die heute dort lebenden Tiere viel zu groß und vergammeln einfach. Daher ist der Milchorangenbaum sehr selten geworden. Andere Baumarten dürften aufgrund des Fehlens von Samenverbreitern bereits von der Erde verschwunden sein.
Das komplexe Zusammenspiel zwischen Tier- und Pflanzenarten ist laut Weber durch den Menschen bedroht. Je besser wir die Zusammenhänge verstehen, umso mehr können wir tun, um die Artenvielfalt zu erhalten. Dies ist ein Anliegen des Autors.
Die Bandbreite an Beziehungen in der Natur ist groß, „von Win-win-Situationen bis zur schamlosen Ausnutzung“, von Kooperation bis zum Kampf. Im Laufe von Jahrmillionen entwickelten sich variantenreiche Strategien der Lebewesen, um die richtigen Partner anzulocken und ihre Gegner abzuwehren. Partner und Gegner haben sich bei vielen Arten in Koevolution gemeinsam weiterentwickelt. Ewald Weber macht deutlich, dass es der Evolution nicht um Perfektion geht, sondern um Vermehrung und Arterhaltung. Dafür werden viele Spielarten ausprobiert, verworfen oder verfeinert. Einige Ergebnisse stellt er in seinem Buch vor.
Weber ist begeistert von Blattläusen wegen ihrer Fähigkeit, den Zuckersaft, der einen Pflanzenstängel durchfließt, zu orten und an der richtigen Stelle anzuzapfen. Für den Biologen sind ihre perfekt angepassten Stechrüssel ein „Wunderwerk der Evolution“.
Auch Tarn- und Täuschungsmanöver haben es ihm angetan. Da gibt es harmlose Insekten, die aggressivere zu ihrem Schutz imitieren, – Sexualtäuschblumen, bei denen die Blüten wie weibliche Insekten aussehen, um Männchen anzulocken und so den Pollen zu verbreiten, – oder Meeresbewohner wie den Großen Fetzenfisch, der vorgibt, eine Braunalge zu sein und einfach im Meer treibt.
Normalerweise werden Pflanzen von Tieren gefressen. Doch es gibt auch den umgekehrten Fall der fleischfressenden Pflanzen (Karnivoren). Kannenpflanzen benötigen Stickstoff, können sich aber nicht fortbewegen. Also verdauen sie die Insekten und Kleintiere, die in ihre klebrigen Kannen gefallen sind, um so ihren Stickstoffhaushalt zu regulieren.
Das chemische Arsenal von Tieren und Pflanzen ist beeindruckend. Chemikalien werden als Lockstoff, aber auch zur Warnung oder Verteidigung eingesetzt. Der Weißklee kann Blausäure produzieren und sich damit gegen knabbernde Schnecken wehren. Ein Wettrüsten zwischen solchen Arten ist nicht ausgeschlossen.
Zum Ende des Buches kommt Weber auf die Bedrohung der Natur durch den Menschen zurück und schlägt diverse Schutzmaßnahmen vor. Das Aussterben einer einzelner Art kann aufgrund der komplexen Beziehungen zwischen Lebewesen ein ganzes Ökosystem gefährden und schadet auch dem Menschen. Schon aus eigenem Interesse sollte die Vielfalt gewahrt bleiben und die Eingriffe in die Ökosysteme sollten sich auf ein Minimum beschränken. Am Beispiel der vor dem Aussterben bewahrten Vulkanpalme erklärt Weber, wie Artenschutz gelingen kann.
Fazit In kurzen Kapiteln beschreibt Ewald Weber detailliert die Mechanismen, die sich im Laufe der Evolution zwischen den Arten entwickelt haben. Er verwendet viele Beispiele, auch aus seinen Beobachtungen als Feldforscher in Amerika oder Tansania und definiert die entsprechenden Fachbegriffe. Alles wird gut verständlich präsentiert, im Stil zwischen einem Lehrbuch für Erwachsene und einem enthusiastischen Forschungsbericht. Am Ende des Buches findet sich eine Liste aller erwähnten Tier- und Pflanzenarten.
Ewald Weber: Der Fisch, der lieber eine Alge wäre – Das erstaunliche Zusammenleben von Tieren und Pflanzen
Verlag C.H. Beck 2015, 245 Seiten mit 50 farbigen Abbildungen
ISBN 978-3-406-66026-9
Leseprobe
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Das hört sich ganz danach an, als läge das Buch genau auf meiner Wellenlänge. Wenn ich es dann verschlinge und verdaue, kommen bestimmt ein paar Gedanken heraus, die überaus fruchtbare Gespräche in Gang bringen könnten! ;) Eine schöne Vorstellung, danke!
Fruchtbare Lektüre – das klingt gut.
Ich habe das Buch jetzt auch gelesen.
Ob ich es rezensiere, weiß ich nicht. Ich habe es unlängst in meinem Blog erwähnt, ich finde es sehr ansprechend, aber was ich eben gerne in Erfahrung gebracht hätte: Wie schafft es die Natur, Mimikry zu erzeugen? Einen Schlangenkopf auf einem Blütenblatt auszubilden? Wie das genetisch vor sich geht, ist zwar im Ansatz vorstellbar, aber worin besteht genau die Technik der Natur?
Ich bin gerade ganz fasziniert von den Krabbenspinnen in meinem Garten. Die sind perfekt getarnt und schaffen es sogar größere Insekten zu täuschen:
Ich denke, die Mimikry ist eine Fähigkeit, die sich zufällig während der Evolution entwickelte und weitervererbt wurde, da sie funktioniert.
Danke für das Bild!
Aber wie weiß der Genbestand einer Pflanze, wie ein Schlangenkopf, den es nachahmt, „aussieht“ ? Und woher weiß die Pflanze, daß so etwas abschreckend sein wird.
Sicher nicht durch Versuch und Irrtum, sondern durch „gerichtete Evolution“.
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