Ein Hoch auf die Schleimer
Zu Schnecken hatte ich nie ein besonderes Verhältnis, bis ich ins Land der Weinbergschnecken zog – in die Pfalz. Im Sommer konnte ich die Spezies Helix pomatia täglich bei ihren Aktivitäten und Passivitäten beobachten, beim genüsslichen Verspeisen meines frisch gepflanzten Edelweiß, beim stundenlangen Sex oder beim gewandten Erklimmen der Höhenzüge im Garten. Ständig bin ich ihren Schleimspuren gefolgt und habe versucht, sie anhand ihrer Gehäuse auseinander zu halten. Zu meinem Bedauern haben sich nun alle Schnecken ins Erdreich verkrümelt, um dort die kalte Jahreszeit zu überstehen.
Aber für Ausgleich ist gesorgt: soeben ist das Buch Schnecken von Florian Werner erschienen, in der bezaubernden Reihe Naturkunden von Matthes & Seitz. So kann ich in der Übergangszeit meinen Wissensdurst über Schnecken stillen und mich an den Abbildungen dieses bibliophil gestalteten Bandes ergötzen. Der Autor ist Literaturwissenschaftler und Journalist. Seine letzten Bücher Verhalten bei Weltuntergang und Helium und Katzengold habe ich bereits mit Genuss gelesen und hier im Blog vorgestellt. Florian Werners neues Buch ist vor allem eine kulturgeschichtliche Betrachtung über Schnecken, aber auch über deren Biologie ist einiges zu erfahren.
Schnecken in der Kultur
Schnecken gelten als Symbol für die Wiedergeburt, doch auch so gegensätzliche Eigenschaften wie Wollust und Keuschheit werden ihnen zugeschrieben. Als Verkörperung der Langsamkeit und des Rückzugs beschäftigen sie die Philosophen. Schneckenkörper und -gehäuse wurden schon von Plinius dem Älteren als Heilmittel eingesetzt, eine makabere Angelegenheit. Als eiweißreiches Nahrungsmittel sind sie vor allem in Frankreich sehr beliebt. Der Vegetarier Florian Werner hat zu Recherchezwecken seine erste und wohl auch letzte Weinbergschnecke verspeist. Damit ist das Thema Schneckenverzehr für ihn gegessen. Dies hindert ihn nicht daran, die kulinarische und soziologische Rolle der Schnecke als Nahrungsmittel im Wandel der Zeiten zu untersuchen.
Den Schnecken bringen wir zugleich Faszination und Ekel entgegen, sie sind uns in manchen Aspekten gar nicht so fremd. Viele Begriffe aus dem Schneckenkontext sind negativ behaftet: Schneckentempo, Schneckenpost, Kriecher, Schleimer. Natürlich haben die Menschen einiges mit den Schnecken gemein:
Und wenn sie sich schließlich doch in Bewegung setzen, hinterlassen sie eine Schleimspur. Ist das nicht, wonach auch wir Menschen uns sehnen? Ist das nicht der Grund, weshalb wir Bücher schreiben, Bilder malen, Lieder komponieren, Statusmeldungen posten: um bauchfüßergleich einen Abdruck zu hinterlassen, ein Zeichen unseres Daseins? Was wir uns mühevoll mit Blut, Schweiß und Tinte abpressen, das schaffen die Schnecken nebenbei im Kriechen. […] Wer schleimt, der bleibt.
Ach, wie wahr! Doch nicht nur das Schleimen kann man sich von den Schnecken abgucken. Sie dienten Künstlern und Architekten wie Le Corbusier mit ihrer spiraligen Gehäuseform als Inspiration und finden ihren Niederschlag in der Literatur, sei es bei Patricia Highsmiths Der Schneckenforscher oder bei Günter Grass‘ Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Auch im Kino sind Schnecken präsent, so im James Bond-Film 007 jagt Dr. No in den Händen des Sexsymbols Ursula Andress. Esskultur, Hochkultur, Popkultur – Schnecken haben wirklich überall ihre Spuren hinterlassen.
Biologie der Schnecken
Neben den gelehrten Betrachtungen zur Schnecke in der menschlichen Kultur informiert Florian Werner auch über artspezifische Besonderheiten wie den veränderbaren Schleim, den die Schnecken je nach Untergrund absondern, über ihre sexuellen Gewohnheiten als Zwitter und ihren Lebenszyklus. Schnecken (Gastropoda) sind die artenreichste Klasse im Stamm der Weichtiere, etwa 100.000 Arten gibt es, die in Nacktschnecken und Gehäuseschnecken unterteilt sind. Die Schönheit und Vielfalt ihrer Gehäuse wirft die Frage nach dem evolutionären Sinn auf.
Zwölf besonders interessante Schneckenarten porträtiert der Autor auf je einer Doppelseite, zum Beispiel die Spanische Wegschnecke als „Schrecken aller Gärtner“, die Große Achatschnecke, eine besonders invasive Art oder den Struppigen Chiton, eine Art, die schon seit 500 Millionen Jahren existiert.
Dieses Büchlein ist eine faszinierende Sammlung von Fakten und Deutungen. Bis die Schnecken im Frühling wieder aus der Erde hervorkriechen, werde ich sicher noch öfter darin blättern. Das neue Buch von Florian Werner ist wieder mit einem Hauch Ironie getränkt, was die Lektüre zu einem echten Vergnügen macht.
Florian Werner: Schnecken
Mit zahlreichen farbigen Abbildungen
Matthes & Seitz Verlag 2015, Reihe Naturkunden, 151 Seiten
ISBN 978-3-95757-164-9
Das klingt interessant. Ich habe letztes Jahr „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ von Elizabeth Tova Bailey gelesen und seitdem finde ich Schnecken doch ziemlich spannend.
(Essen möchte ich aber doch lieber keine.)
Schöner Buchtipp, danke!
Liebe Petra,
das ist ja wieder eine sehr informative Wissensbereicherung und Leseanregung. Dankeschön!
In meinem Garten tummeln sich Schnirkelschnecken, und ich bin immer wieder fasziniert von den winzigen Schnirkelschneckenkindern, die sind so klitzeklein und durchsichtig und haben schon ein Gehäuse – das rührt mich immer an.
Das beschaulich-leise Buch von Elisabeth Tova Bailey: „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ habe ich auch sehr gerne gelesen.
Da gibt es auch einen Link zu einer Filmsequenz mit den Essgeräuschen einer Gehäuseschnecke: http://www.elisabethtovabailey.net/
Schnecken essen kommt für mich ganz und gar nicht in Frage – ich bin Vegetarierin.
Verschnirkelschneckte Grüße :-)
Ulrike
Liebe Ulrike,
die Schnirkelschnecke habe ich noch nicht gesichtet, dafür viele winzige spitzkegelige Gehäuse, die ich noch nicht zuordnen konnte. Und ich habe eine unheimliche Begegnung mit einem Tigerschnegel zu vermelden, einer etwa 18 cm langen Nacktschnecke!
Vielen Dank für den link zur schönen Website von Elisabeth Tova Bailey. Christoph und du habt mich sehr neugierig auf ihr Buch gemacht. Jetzt steht es auf meiner Wunschliste!
Liebe Ulrike,
inzwischen kenne ich das wunderbare Buch von Elisabeth Tova Bailey über Schnecken, das du und Christoph mir empfohlen habt. Ich habe es regelrecht verschlungen, da es neben der Krankengeschichte der Autorin unerwartet viele Informationen über Schnecken enthält und einfach toll erzählt ist. Außerdem habe ich viele Anregungen für den Umgang mit meinen Weinbergschnecken gewonnen. Die zählen übrigens auch zur Familie der Schnirkelschnecken, was mir erst kürzlich aufgefallen ist.
Liebe Petra,
das ist schön, daß Du nun zu den Schnirkelschnecken-Eingeweihten gehörst!
Vielleicht lese ich das Buch noch einmal und schreibe eine Besprechung, denn es ist ein Werk, welches viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte …
Eine entspannte Vorweihnachtszeit wünscht Dir
Ulrike :-)
Wollüstige wiedergeborene Schnecken? Ich ahnte ja nicht, was die kleinen Schleimer drauf haben :-)
Danke für die Vorstellung des Buches – die Reihe ist einfach toll.
Birgit
Es ist erstaunlich, was der Autor zusammen getragen hat. So viele widersprüchliche Zuschreibungen, für jeden ist etwas dabei. Wird dir bestimmt auch gefallen :-)
Das Buch hatte ich neulich auch in der Hand & ich glaube, ich werde es mir auch noch kaufen. Habe bislang aus dieser schönen Reihe schon die Bücher zu Krähen, Eseln, Eule etc. und bin immer wieder höchst angetan von der Aufmachung, den wunderschönen Illustrationen. Tatsächlich gekauft hatte ich mir dann ein anderes wundervoll gemachtes Buch, Das Schiff des Theseus. Da war ich erst mal pleite ; ) Liebe Grüße
Petra
Ja, die Reihe ist wirklich schön! Das Schiff des Theseus habe ich kürzlich geschenkt bekommen. Auch wenn es inhaltlich nicht so überzeugt, die Gestaltung ist wirklich beeindruckend! Schöne Bücher kann es nie genug geben! Ich bin auch schon gespannt auf das Frühjahrs-Programm von Matthes & Seitz. Wünsch dir einen schönen Abend!