An der Grenze zwischen der klassischen und der Quantenwelt
Die Quantenbiologie ist eine neue Disziplin an der Schnittstelle zwischen Quantenmechanik und Biologie. Sie könnte Antworten geben auf offene Fragen über die Fotosynthese, den Vogelflug, den Geruchssinn, ja sogar das Rätsel um die Entstehung des Lebens könnte mit ihrer Hilfe gelöst werden. Doch vieles ist bisher reine Spekulation.
Der Kernphysiker Jim Al-Khalili, auch bekannt durch wissenschaftliche TV-Dokumentationen und als Autor populärwissenschaftlicher Bücher, und der Molekulargenetiker Johnjoe McFadden widmen sich in ihrem Buch Der Quantenbeat des Lebens diesem spannenden neuen Wissenschaftszweig. Sie erklären, wie sich das Leben an der Grenze zwischen der klassischen und der Quantenwelt abspielt. „Life on the Edge“ lautet auch der Originaltitel ihres Buches.
Seltsame Quantenmechanik
Eigentlich ist die Quantenmechanik für Vorgänge in der Mikrowelt der Atome und Elementarteilchen verantwortlich. Dort geschehen seltsame Dinge, die der Logik und dem gesunden Menschenverstand widersprechen: die Superposition eines Teilchens an mehreren Orten gleichzeitig, das Tunneln durch Barrieren oder die Verschränkung von Teilchen, die weit voneinander entfernt und doch aneinander gekoppelt sind. So unfassbar diese Mechanismen auch sein mögen, sie sind real. Erstaunlicherweise sind diese fragilen Quanteneffekte aber auch in biologischen Systemen wirksam, was durch immer mehr Studien belegt wird.
Unterwegs mit dem Nano-U-Boot
Die Autoren erklären genau, wie quantenphysikalische Phänomene in der Teilchenwelt funktionieren, um die Mechanismen dann auf biologische Systeme zu übertragen. Ohne konzentrierte Lektüre sind ihre Ausführungen aber nicht zu verstehen! Pfiffige Ideen und gut gewählte Analogien lockern den anspruchsvollen Text auf. So reisen wir mit einem Nano-U-Boot durch den Körper einer Kaulquappe bei der Metamorphose zum Frosch. Dort beobachten wir die Enzyme bei ihrer Arbeit als „Motoren des Lebendigen“. Enzyme sind unter anderem für den Stoffwechsel zuständig und bauen mithilfe des Tunneleffekts Moleküle auf und ab. Später sind wir beim Wachstum der Blätter eines Apfelbaums dabei und erleben, wie effizient die Energie aus dem Sonnenlicht genutzt wird. Bei der Fotosynthese sind ebenfalls Quanteneffekte am Werk.
Im Auge des Rotkehlchens
Auch das Geheimnis des Vogelflugs könnte durch die Quantenbiologie erklärt werden. Schon länger ist bekannt, dass Vögel sich am Magnetfeld der Erde orientieren können. Dies ist aber sehr schwach ausgeprägt. Wie können Lebewesen es überhaupt wahrnehmen? Die Quantenbiologie hat nun herausgefunden, dass bestimmte Rezeptoren im Auge der Vögel durch Quantenspin und Quantenverschränkung auf das Magnetfeld reagieren. Daher können Vögel es als Kompass benutzen. Wir begleiten Rotkehlchen auf ihren Flügen zu ihren Winterquartieren, um diese komplexen Mechanismen zu verstehen. Al-Khalili und McFadden kommen zu dem Ergebnis, dass der Quantenkompass, da er im Tierreich sehr verbreitet ist, vermutlich schon seit mehr als 500 Millionen Jahren existiert.
Und viele Fragen offen
Die Autoren sind fest davon überzeugt, dass die Quantenbiologie eine Erklärung für viele biologische Abläufe bietet. Ihnen ist bewusst, wie schwierig es ist, hier Gewissheit zu erlangen, da sich Quantenphänomene in lebenden Organismen nicht so leicht nachweisen lassen. Daher diskutieren sie die verschiedenen Forschungsansätze mit großer Sorgfalt und beziehen auch die Zweifel und Gegenargumente mit ein. Für uns Leser ist immer klar, ob wir uns auf dem Boden der Tatsachen oder im Reich der Spekulation befinden. Zur Zeit wird untersucht, ob quantenmechanische Effekte für Mutationen im Erbgut zuständig sind und wie es den ersten Zellen gelang, sich selbst zu replizieren und fortzupflanzen. Quantenmechanische Effekte könnten also für den Beginn des Lebens und die Evolution verantwortlich sein!
Zu viel oder gerade richtig
Das Ringen um supergenaue Formulierungen und manche zu ausführlich geratene Hintergrundinformation unterbrechen gelegentlich den Lesefluss. Außerdem sind einige Wissenschaftlerbiografien unnötig lang geraten. Etwas Straffen hätte sicher nicht geschadet. Andererseits war es interessant zu erfahren, welche Wissenschaftler am Erkenntnisgewinn beteiligt waren und mit welchen Methoden sie arbeiteten. So liest sich das Buch auch als eine Wissenschaftsgeschichte dieser neuen Disziplin, die vor etwa 80 Jahren unter anderem durch Erwin Schrödinger ihren Anfang nahm, aber erst seit etwa 10 Jahren als eigenständige Wissenschaft betrieben wird. Durch den Quantenbeat des Lebens bin ich vielen Quantenphänomenen näher gekommen als je zuvor und habe hervorragende Erklärungen für die kompliziertesten biologischen Prozesse erhalten. Und erst das fremdartige Vokabular der Wissenschaft! Ich bin auf klangvolle Begriffe gestoßen, die mir bisher unbekannt waren, die aber selbstverständlich im Buch definiert werden: Exciton, Cryptochrom, Quanten-Zeno-Effekt, Tautomere, Spin-Triplett-Zustand!
Fazit
Mit diesem faszinierenden Buch sind die Autoren ihrem Anspruch gerecht geworden, die Quantenbiologie auch interessierten Laien verständlich zu machen. Von den Anfängen in den 30er Jahren bis in die Gegenwart können wir die Entwicklung dieser Wissenschaft nachvollziehen. Die Quantenbiologie ist ein extrem spannendes neues Forschungsfeld mit viel Potenzial! Wir können gespannt sein, welche Geheimnisse des Lebens die Forschung in Zukunft noch lüften wird.
Jim Al-Khalili/Johnjoe McFadden: Der Quantenbeat des Lebens – Wie Quantenbiologie die Welt neu erklärt
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Ullstein Verlag 2015, 423 Seiten
ISBN 978-3-550-08110-1
Erhältlich bei der Buchhandlung des Vertrauens
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Ja, das Buch steht auch noch auf der Zu-Lesen-Liste…aber im Moment komme ich leider allgemein nicht recht zum Lesen. Aber es hört sich auf jeden Fall ziemlich cool an! Ich sehe gerade auch, dass mir von Deiner Vorfreudenliste auch noch „Arrival of the Fittest“ fehlt…oje ;-)
Die beiden Bücher haben übrigens den gleichen Übersetzer, wie ich kürzlich festgestellt habe. Sebastian Vogel ist promovierter Genetiker und seine Übersetzung des Quantenbeats ist wirklich hervorragend! Auf Arrival of the Fittest bin ich daher besonders gespannt!
Viele Grüße, Petra
Mit Quanten ist ja schon so mancher esoterischer Unsinn verzapft worden, aber hierbei scheint es ja um wissenschaflich fundierte „Spekulationen“ zu gehen, wofür ja auch die Ausbildung beider Autoren spricht. Interessant!
Um Esoterik geht es wahrlich nicht! Mittlerweile fanden drei internationale Konferenzen zur Quantenbiologie statt, die letzte an der Uni Ulm, die in Deutschland federführend auf diesem Gebiet ist. Dort entsteht gerade ein Zentrum für Quanten-Biowissenschaften. Das ist ganz schön spannend!
Liebe Petra,
mich hat das Buch, wie du ja schon lesen konntest, auch sehr begeistert!!
LLG Heike
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