Wie funktioniert Evolution? Welche Mechanismen sind für die großen Umbrüche in der Entwicklung der Lebensformen verantwortlich? Der Paläontologe und Bestsellerautor Neil Shubin bringt uns mit seinem Buch Die Geschichte des Lebens – Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt auf den neuesten Stand der Forschung.
Biologische Innovationen – Was treibt die Evolution voran?
Shubin liefert keinen systematischen Überblick, sondern pickt sich einzelne Aspekte der Evolution heraus. Er verdeutlicht sie anhand der Geschichte ihrer Erforschung und liefert damit zugleich interessante Einblicke in die Wissenschaftsgeschichte.
Viele Erkenntnisse über die Evolution verdanken wir Übergangsformen wie Tiktaalik, einem Knochenfisch mit Merkmalen von Landwirbeltieren, den Shubin und seine Kollegen 2004 entdeckten. Doch es ist nicht so einfach! Lungen gab es bereits, lange bevor sich aus Fischen Landbewohner entwickelten. Auch Federn existierten schon eine ganze Weile, doch zum Fliegen setzten Vögel sie erst später ein. Das Potential für Veränderungen war also schon vorhanden, doch was setzte sie in Gang? Viele Entwicklungen waren eben keine echten Innovationen, sondern alter Wein in neuen Schläuchen! Shubin erklärt die verschiedenen Möglichkeiten gut nachvollziehbar und mit plastischen Beispielen. »Abwandlung, neuartige Nutzung oder Zweckentfremdung alter Gene sind das Ausgangsmaterial des evolutionären Wandels«, schreibt er.
Ein weiterer Aspekt ist die Frage, ob Zufall oder Bestimmung die Evolution stärker beeinflusst. Manche Innovationen lagen einfach in der Luft und sind nicht zufällig entstanden. Als Beispiel nennt Shubin die komplizierten Zungen von Salamandern, die wie ein Projektil herausschießen und ihre Beute zielsicher ins Maul befördern. Sie entwickelten sich in verschiedenen Weltregionen unabhängig voneinander auf die gleiche Art. (Dem Thema Zufall oder Bestimmung als Evolutionsmotor widmet sich auch Jonathan B. Losos in seinem lesenswerten Buch Glücksfall Mensch.)
Paläontologie heute: Fossilien sammeln und DNA-Technik
Shubin erzählt auch lebendig von seiner Laufbahn als Forscher: vom Fossilien sammelnden Paläontologen zum Molekulargenetik-Experten im Labor, auf den Spuren alter Gene. Ohne die Methoden der Genforschung wären viele Durchbrüche und Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte über die Evolution unmöglich gewesen. Die erstaunlichsten Einsichten verdanken wir dem Vergleich der Embryonalentwicklung verschiedener Lebewesen. Denn das Entwicklungstempo variiert stark von Art zu Art. Uralte Konstruktionsprinzipien führten bei einem Lebewesen zu einer Flosse, bei einem anderen zur Hand oder zum Flügel! Hier kann man beobachten, wie die Gene auf die Evolution einwirken. Doch der Weg zur Erkenntnis ist mit makabren Tierexperimenten, Klonen und Züchtungen um der Forschung willen gepflastert.
Anspruchsvoller Biologie-Unterricht – unterhaltsam und gut verständlich präsentiert
Während Neil Shubins letztes Buch Das Universum in dir mich nicht hundertprozentig überzeugte, ist seine Geschichte des Lebens ein erstklassiges Sachbuch – so mitreißend erzählt, wie ich es mag. Manches hat mich regelrecht elektrisiert! Den anspruchsvollen Stoff lockert Shubin auf durch Geschichten über Forschende und ihre revolutionären Ideen. Ich habe so viel Neues erfahren: über molekulare Schalter im Genom, über die molekulare Uhr, anhand derer man das Alter einer Art bestimmt, über springende Gene und über domestizierte Viren in unserem Erbgut, die offenbar eine wichtige Rolle bei der Evolution spielten.
Ihr merkt es schon: Das Buch enthält mehr Wissen über Genetik als erwartet! Doch wer sich darauf einlässt, erfährt auch, wie die Geschichte des Lebens Baustein für Baustein entschlüsselt wurde. Ein tolles Sachbuch, das Naturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte miteinander verknüpft!
Nominiert als Wissensbuch des Jahres 2020/21 in der Kategorie ÜBERBLICK
Neil Shubin: Die Geschichte des Lebens – Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt
Originaltitel: Some Assembly Required. Decoding Four Billion Years of Life, From Ancient Fossils to DNA
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
S. Fischer Verlag 2021, 352 Seiten
ISBN 978-3-10-397240-5
Leseprobe
Noch immer weiss man nicht, wie Leben entstanden ist, wieso aus einfachen Bausteinen wie Aminosäuren sich etwas formen konnte, das man Leben nennen konnte. Und auch dieser exponentiell schnelle Drang zu immer mehr Komplexität von Art zu Art, auch der ist so schwierig zu verstehen.
Andreas Wagner hatte ja anfangs seines Buchs gesagt, dass durch blossen Zufall die paar hundert Millionen Jahre nie ausgereicht hätten, das hervorzubringen, was wir hier haben.
Also für mich ist das Rätsel noch nicht bei weitem gelöst.
Was über den Zufall hinausgeht, wird teilweise in diesem Buch erklärt. Versuchs doch mal damit, lieber Gerhard. Ich fand es wirklich klasse! Einen guten Einblick bietet die Leseprobe:
https://www.book2look.com/book/9783103972405
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Warum so kompliziert. Es ist doch alles so einfach.
Wenn jemand eine Spielbank eröffnet, wovon ist es abhängig ob er Gewinn oder Verlust macht? Vom Zufall? Nein, es ist abhängig vom „Baukasten“ (d. h. den Spielen) und den Spielregeln. So ist es auch bei der Evolution, sie ist abhängig vom Baukasten (Materie) und den Spielregeln (Naturgesetze).
Wo sehr häufig gewürfelt wird, ist das Ergebnis nur noch vom Würfel und den anderen Randbedingungen abhängig.
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