Karten helfen uns bei der Routenplanung, der Standortbestimmung und Orientierung an fremden Orten. Unsere heutige Vorstellung von der Geografie der Erde ist geprägt durch Satellitenbilder und GPS-Daten. Doch angefangen hat alles mit Landkarten, die Reisende vergangener Jahrhunderte angefertigt haben. Welche Geschichten erzählen uns diese Karten über die Zeit, aus der sie stammen? Was wird dargestellt und was wird verschwiegen – oder ist noch unbekannt? In diesem herrlichen Schmöker erzählt Simon Garfield die spannende Geschichte der Kartografie, von der Antike bis in die Gegenwart.
Simon Garfield ist ein britischer Journalist und Sachbuchautor, dessen letztes Buch Just My Type über die Geschichte der Typografie ein großer Erfolg war. Auch sein neues Werk Karten! ist bereits ein internationaler Bestseller und liegt nun endlich in deutscher Sprache vor.
Darin erzählt Garfield von großartigen Kartografen wie Claudius Ptolemäus, dessen Werk Geographica über tausend Jahre die Basis für alle Karten bildete. Bekannt waren damals die drei Kontinente Asien, Europa und Afrika, die nach dem T-Schema angeordnet wurden. Später änderte sich die Form zur T-O-Karte, bei der auch noch der umgebende Ozean abgebildet wurde.
Im Mittelalter dominierten die Mappae Mundi: Weltkarten, die einen hervorragenden Einblick in die Vorstellungswelt dieser Epoche darstellten. Berühmte Karten wie die Mappa Mundi von Hereford, die Ebstorfer Weltkarte oder die meisterliche Weltkarte des Mönches Fra Mauro zeugen von zeichnerischem Talent und großer Gelehrsamkeit. Unbekanntes Terrain, die Terra Incognita, wurde fantasievoll ausgeschmückt, zum Beispiel mit Fabelwesen, Bibelzitaten, Bauwerken oder einfach mit besonders großer Schrift. Es ging dabei nicht um die geografische Exaktheit, sondern um ihren Informationsgehalt. Simon Garfield gerät immer wieder ins Schwärmen angesichts der Fülle von faszinierenden Details, die auf diesen Karten zu entdecken sind.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich die Karten immer weiter. Viele Informationen aus Reiseberichten von Seefahrern und Entdeckern wie Marco Polo flossen in die Karten ein. Die Vermessungen von Küstenlinien fanden ebenso ihren Niederschlag wie Berichte über wilde Tiere in fernen Ländern. 1507 entstand die erste Karte, auf der Amerika als neu entdeckter Kontinent verzeichnet war – die berühmte Waldseemüllerkarte. Etwa ab dem 16. Jahrhundert wurde die Darstellungsform der Planisphäre durch die Aufteilung in zwei Hemisphären abgelöst. Durch den Kupferstich waren präzisere Karten möglich als mit dem Holzschnitt. Für Kartografen waren dies goldene Zeiten, denn Karten waren wichtig für die Eroberung neuer Gebiete und die Erschließung von Handelswegen.
Große Kartografen-Dynastien entwickelten sich in Italien, Deutschland und den Niederlanden und dominierten den Markt in ständiger Konkurrenz zueinander, darunter Mercator, Ortelius und Blaeu. Ein neuer Trend begann ebenfalls im 16. Jahrhundert: die Sammlung mehrerer Karten in einem Atlas. Dieser Begriff wurde von dem Kartografen Mercator geprägt. Solche Werke waren besonders prachtvoll ausgestattet und dienten als reine Luxusobjekte.
Vor einigen Jahren produzierte der Taschen Verlag eine Faksimile-Ausgabe des Blaeu-Atlas von 1665. Ich kann mich noch an die Faszination erinnern, die von dieser Prachtausgabe ausging. Derartige Reproduktionen ziehen uns auch heute noch in ihren Bann! Wer sich in die kunstvoll gestalteten Karten vertieft, erfährt sehr viel über den Wissensstand der jeweiligen Zeit, denn in den Kartuschen, den Schmuckelementen, sind viele Informationen über Länder und ihre Bewohner, Sitten und Gebräuche, Flora und Fauna zu finden.
Einige amüsante Kapitel erzählen von Fehlinformationen in Karten und Atlanten, wie z.B. die westafrikanischen Kong-Berge, die ein britischer Landvermesser durch Fehlinterpretation eines Reiseberichts gezeichnet hatte und die fast 100 Jahre lang durch die Karten ihrer Zeit geisterten. Aber wir erfahren auch etwas über die Geschichte der Reiseführer, der ersten Londoner Stadtkarte oder über die Herstellung von Globen. Dazu hat Garfield den Globenbauer Bellerby in London besucht und sich zeigen lassen, wie kompliziert es ist, lauter bedruckte Zweiecke auf eine Kugel zu applizieren. Hier gibt es ein schönes Video dazu:
Die letzten weißen Flecken auf den Landkarten befanden sich in der Antarktis. Sie wurden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschlossen. Viele Expeditionen hatten vergeblich versucht, den Südpol als erste zu erreichen. Sie alle trugen zur Kartierung dieser schwer zugänglichen Region bei.
Und auch Karten fiktiver Gebiete werden von Garfield gewürdigt. Tolkiens Atlas von Mittelerde weiß er ebenso zu schätzen wie die Schatzkarte zu Robert Louis Stevensons Roman Die Schatzinsel. Heutige Kartografen können ihrer Fantasie bei der Kartierung von Computerspielen wie Grand Theft Auto oder Skyrim freien Lauf lassen.
Im 21. Jahrhundert ist die Vermessung zu Fuß nicht mehr up to date. Satelliten haben uns viel Arbeit abgenommen und erfassen alle Details aus der Vogelperspektive. Google arbeitet nach der Kartierung ganzer Straßenzüge unserer Städte (Street View) bereits an der Erfassung der Innenräume von Gebäuden. Selbst andere Planeten können inzwischen kartiert werden! Bei einem Besuch bei Google Maps in Kalifornien stellt Simon Garfield fest, dass das Unternehmen den großen Kartografen und Entdeckern Respekt zollt. Die Konferenzräume tragen Namen wie Eratosthenes, Ortelius, Magellan, Marco Polo, Amundsen, Buzz Aldrin! Das Bewusstsein für deren zukunftsweisende Entdeckungen und die Wurzeln der Kartografie ist also vorhanden.
In diesem Buch erfahren wir, wie die Menschen gelernt haben, Karten zu erstellen und zu benutzen. Leider geben sie die wertvolle Kulturtechnik des Kartenlesens heute freiwillig wieder auf. Nur so ist es zu erklären, dass Menschen mit ihrem Fahrzeug in einem Wassergraben landen, weil ihr satellitengestütztes Navigationsgerät sie dort hingeleitet hat. Diesen unglückseligen Trend nimmt Garfield humorvoll unter die Lupe.
Sein Buch wartet mit einer Fülle von Episoden auf, die uns die Geschichte der Karten näherbringen. Garfield ist ein mitreißender Erzähler. Es gelingt ihm sehr gut, alle Episoden in den jeweiligen historischen Kontext einzubetten und das Ganze zu einem stimmigen Ganzen zu verbinden. In zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen werden etliche der beschriebenen Karten gezeigt. Wem das nicht genügen sollte, dem empfiehlt der Autor zwei Webseiten über Karten, auf denen man sich nach Belieben sämtliche Details heranzoomen kann: die Kartensammlung von David Rumsey und das Kartenportal von Tony Campbell.
In lockerem Tonfall vermittelt er auch Informationen über wichtige Bezeichnungen und Hilfsmittel wie Kartuschen, Längen- und Breitengrade oder Triangulation. Mir ist auf den 500 Seiten nie langweilig geworden. Zeit, sich mal wieder in einen Atlas zu vertiefen, diesmal mit neu gewonnenem Wissen!
Als Anschlusslektüre werde ich unbedingt nochmal den schönen Bildband Die Macht der Karten von Ute Schneider zur Hand nehmen, der sich ebenfalls mit der Geschichte der Kartografie auseinandersetzt, allerdings ganz andere thematische Schwerpunkte setzt.
Simon Garfield: Karten! – Ein Buch über Entdecker, geniale Kartografen und Berge, die es nie gab
Aus dem Englischen von Katja Hald und Karin Schuler
Theiss Verlag 2014, 2. Auflage 2017, 520 Seiten
ISBN 978-3-8062-3441-1
Leseprobe
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Wieder ein toller Tipp, liebe Petra! Danke : )
Gern geschehen :-) Ich freu mich, wenn meine Tipps gut ankommen.
Irgendwie werde ich mit dem Buch nicht richtig warm. Ich habe es vor über einen Monat angefangen zu lesen und stecke immer noch in den ersten Kapiteln.
Schade, gerade die ersten Kapitel über die antiken und mittelalterlichen Karten fand ich sehr gelungen. Aber man kann es nicht erzwingen. Versuchs lieber später noch einmal.
Liebe Grüße,
Petra
Ich fand das auch sehr interessant, alleine, dass die berühmte Herfordshire-Karte für 5000 Pfund verramscht werden sollte …Oo.
Aber zur Zeit interessiere ich mich nicht so für Geschichte.
Herzlichen Dank für den Beitrag!
dein beitrag, liebe petra, erinnert mich an das einleitende kapitel von judith schalansky für ihren atlas der abgelegenen inseln, in dem sie auch über landkarten und die damit möglicherwiese verbundenen träume spricht….
danke für die schöne besprechung, ich merke, ich bin eindeutig zu selten auf deinem blog… ;-)
lg
fs
Vielen Dank für dein Lob, lieber Flattersatz! Mit Genuss habe ich sogleich deine Ode an den Atlas gelesen. Schon lange schleiche ich um Schalanskys Buch herum. Jetzt weiß ich endlich, warum und welche Ausgabe es sein muss.
Liebe Grüße
Petra
Liebe Petra,
ich stöbere gerade durch Deinen Blog, den ich noch gar nicht kannte und Dein Blog ist für mich eine richtig tolle Entdeckung. Werde ab jetzt wohl öfters hier stöbern.
Dieser Post über das tolle Buch von Simon Garfield hat es mir besonders angetan und ich bekomme richtig Lust, es mal zu lesen. Bin sonst nicht so der Sachbuchleser, aber hier findet man scheinbar auch die besonderen, klasse.
Danke und liebe Grüße, Kai
P.S.: der Film über die Globusherstellung ist wirklich sehenswert!
Lieber Kai,
über so einen Kommentar freue ich mich ganz besonders, denn ich fühle mich in meiner Zielsetzung verstanden! Herzlichen Dank und viel Spaß, falls du dich tatsächlich entschließt, das Buch von Garfield zu lesen.
Liebe Grüße,
Petra
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Das Buch klingt auch äußerst spannend. Schade, dass ich es erst jetzt gefunden habe. In der British Library läuft zur Zeit eine Ausstellung über Maps. Ich weiß noch nicht, ob ich die Zeit finde, dorthin zu gehen, aber das Buch wäre sicherlich eine gute Lektüre als Einführung, um mehr von der Ausstellung zu haben. Herzliche Grüße, Peggy
Ich hoffe, dass du die Zeit noch finden wirst, wenn du wieder in Good Old Europe bist! Wenn es nicht klappt, kannst du dich immer noch an diesem Buch erfreuen.
Liebe Grüße, Petra
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Zum Thema “Karten” haben wir auch was zu bieten: https://meinkunstbuch.wordpress.com/2020/06/30/verrueckt-nach-karten-geniale-geschichten-von-fantastischen-laendern/
Danke! Was für ein toller Buchtipp, der kommt auf meinen Wunschzettel :)
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