Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn Fakten nicht mehr zählen? Wenn jeder sich sein eigenes Weltbild zurechtzimmert, ohne Interesse für das, was belegt und bewiesen ist? Wenn Verschwörungstheorien immer mehr Anhänger finden? Die dänischen Philosophen Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard gehen dem in ihrem spannenden Buch Postfaktisch (Originaltitel: Fake News) nach. Sie analysieren Beispiele aus den USA, Dänemark, Frankreich und Deutschland und warnen eindringlich vor den Gefahren einer postfaktischen Demokratie.
Auch wenn Fake News kein neues Phänomen sind, ist man ihnen in unserem Informationszeitalter stärker ausgesetzt als früher. Denn Nachrichten verbreiten sich heute auf vielen Wegen und in unglaublicher Schnelligkeit über das Internet. Herkömmliche und neue Medien, seriöse und unseriöse Anbieter kämpfen um unsere knappe Aufmerksamkeit und produzieren eine gewaltige Informationsflut. Hendricks und Vestergaard erklären plausibel, wie der Kampf um die mediale Aufmerksamkeit funktioniert und warum diese Mechanismen oft zulasten der Wahrheit gehen. Denn was zählt, sind Klickzahlen, eine möglichst weite Verbreitung – letztlich geht es um Werbeeinnahmen, um ökonomische Faktoren. Da funktionieren Sensationen und Gerüchte besser als gründlich recherchierte Inhalte. Sorgfältig differenzieren die Autoren zwischen verschiedenen Ausprägungen von Unwahrheit wie Bullshit, Fake News und krassen Lügen.
Hinzu kommt das Problem, dass Fakten und Beweise für immer mehr Menschen schlicht irrelevant sind. Informationen, die der eigenen Meinung widersprechen, verursachen eine kognitive Dissonanz, das heißt man fühlt sich unbehaglich. Viele Menschen versuchen dies zu vermeiden, indem sie sich in eine Filterblase zurückziehen, die sie von anderen Denkmodellen, anderen Versionen einer Geschichte fernhält und in der eigenen Meinung bestärkt. Damit sind sie leichte Beute für Populismus und Verschwörungstheorien.
Populisten nutzen gezielt jene Informationen, die ihnen nützen. Sie leugnen oder ignorieren, was ihrer Ideologie widerspricht. Sie bauen Feindbilder auf und teilen die Welt ein in „Wir und die anderen“. Hendricks und Vestergaard, die am Center for Information and Bubble Studies der Universität Kopenhagen tätig sind, haben erforscht, mit welchen Mitteln es Donald Trump und seinem Team im letzten US-Wahlkampf gelang, seine Gegnerin Hillary Clinton in den amerikanischen Medien zu diskreditieren. Sie gewannen die Deutungshoheit über die Informationen, die von seriösen und unseriösen Medien verbreitet wurden – was letztlich, neben dem Einfluss von russischer Seite, zu Trumps Wahlsieg führte. Selbst mit dicken Lügen kam er bei seinen Anhängern durch, da sie im Dienste der gemeinsamen Sache akzeptiert wurden.
Die USA befinden sich bereits auf dem Weg zu einer postfaktischen Demokratie, wie die Autoren anhand diverser Alarmsignale belegen. Doch auch in anderen Ländern wächst die Gefahr. Denn das generelle Misstrauen gegenüber den Medien und der Politik steigt überall. Die Wahrheit verliert an Bedeutung.
Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard erklären schlüssig, warum so viele Menschen auf Populisten hereinfallen, wie sich unser Denken durch das ständige Bombardement mit Fake News verändert und langfristig die Demokratie als Staatsform in Gefahr ist. Mit ihrem Buch Postfaktisch leisten sie einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung. Wer die Mechanismen im kreativen Umgang mit der Wahrheit versteht, kann Nachrichten besser beurteilen. Eine aufrüttelnde und spannende Lektüre!
Vincent F. Hendricks/Mads Vestergaard: Postfaktisch – Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien
Aus dem Dänischen von Thomas Borchert
Blessing Verlag 2018, 208 Seiten mit 45 Schwarz-Weiß-Abbildungen
ISBN 978-3-89667-636-8
Leseprobe
Nominiert als Wissensbuch des Jahres 2018 in der Kategorie Zündstoff
Ich finde auch, daß das ein wirkliches Problem darstellt. Mir scheint, daß das enthemmte Lügen, die Falschdarstellungen überhand nehmen. Man stösst allenthalben auf krudeste Darstellungen und fragt sich, wie so etwas möglich ist.
Das Thema hat mich auch interessiert. Ich las letztes Jahr von Robert Feldmann „Die Wahrheit über das Lügen“. Und die Biographie von Albert Speer von Magnus Brechtken. Gerade das letzte Buch zeigte auf, wie man offensichtliche Wahrheit verbiegen kann. Speer arbeitete bis ins Kleinste ein Narrativ auf, das ihn als guten Nazi auswies – was absolut fern der Wahrheit war. Selbst manche Geisteswissenschaftler gingen ihm auf dem Leim.
Schade ist, daß solch ein Buch wie das von dir vorgestellte wohl nicht in Breite gelesen wird.
Vieles wird gar nicht hinterfragt und einfach geteilt. Da ist es schwer, den Überblick zu behalten und wahr von falsch zu unterscheiden. Menschen, die das Märchen von der Lügenpresse glauben oder wissenschaftsfeindlich eingestellt sind, können mit solchen Büchern, auch den beiden von dir erwähnten, nichts anfangen. Da würde das Weltbild ins Wanken geraten – kognitive Dissonanz.
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Wie Gerhard schon richtig bemerkte, ein wichtiges Thema, dass leider nicht von der breiten Masse wahrgenommen wird. Versucht man aufzuklären, wird man allzu oft in die besserwisserische Ecke gedrängt und ignoriert. Der Ansatz für eine tiefergehende Denkweise, muss allerdings schon im Elternhaus, spätestens jedoch in der Schule gelegt werden.
Mit den Fakten ist das so eine Sache. In einem Universum, das fortwährend evolviert, bleibt im Grunde nichts, wie es ist und wenn es bleiben soll, wie es nicht bleiben kann, dann kann man mit Daten vereinfacht neue Kontexte schaffen – und mit großen Datenbergen auch ganze Kontextgebirge versetzen:
https://guidovobig.com/2017/04/23/fakten-sind-fakt-f-alles-andere/
Lesenswert: ‚Humanity in a creative universe‘ von Stuart A. Kauffman