Léo Grasset: Giraffentheater

Cover Grasset Giraffentheater

© Wagenbach

Sechs Monate hat der Evolutionsbiologe Léo Grasset im Hwange-Nationalpark von Simbabwe verbracht, um Feldforschung zu betreiben. In seinem witzig geschriebenen Buch Giraffentheater erzählt der junge Franzose von Erlebnissen und Erkenntnissen aus dieser Zeit. Nun könnte man meinen, dass über die afrikanische Tierwelt schon alles gesagt sei. Doch Grasset belehrt uns eines Besseren. In fünfzehn Kapiteln, die auf Blogbeiträgen für Freunde basieren, erklärt er, welche Rätsel uns die Evolution und das Verhalten von Tieren noch immer aufgeben. Außerdem geht er auf die Jahrtausende alte Koexistenz von Menschen und Tieren in der Savanne ein. So erhalten wir einen Überblick über die Vielfalt und den neuesten Stand der Tierforschung in Afrika. Alles schon bekannt? Auf keinen Fall!

Gelangweilt schalten Sie die x-te Reportage über die Tierwelt der afrikanischen Savannen aus. Immer derselbe Kram: der Gepard im schnellen Lauf, die Gazelle, die mit weiten Sprüngen dem Raubtier zu entkommen versucht, die gelben, trockenen Gräser als Dekor. Ihre Meinung steht fest: Von den Gazellen und Geparden können Sie nichts Neues mehr erfahren. Und dennoch – die Flucht der Thompson-Gazelle kann Ihnen die Tore zu einer noch weitgehend unbekannten Welt der Biologie eröffnen, womöglich zum Terrain einer künftigen wissenschaftlichen Revolution!

Diese Revolution besteht unter anderem in der Neubewertung der Rolle des Zufalls als Evolutionsfaktor. Die Fluchtmuster von Gazellen sind nur eines von mehreren Beispielen, die Grasset gut verständlich darlegt. Scheinbar von der Evolution optimierte Bewegungsabläufe bleiben in Wirklichkeit dem Zufall überlassen und führen gerade deshalb zum Erfolg. Auch bei der Nahrungssuche oder dem Fortpflanzungsverhalten regiert oft der Zufall. Hier wird deutlich, wie kompliziert das Verhalten von Lebewesen für die Biologen zu deuten ist. Zu meiner Begeisterung streift Grasset sogar quantenmechanische Effekte im Tier- und Pflanzenreich. Die noch junge Disziplin der Quantenbiologie hat schon bei der Lektüre des Buches Der Quantenbeat des Lebens von Jim Al-Khalili und Johnjoe McFadden mein Interesse geweckt.

Zu Grassets Aufgaben zählte auch die Vermessung von Zebrastreifen. Allein zur Frage, warum das Zebra weiße Streifen hat, wo es doch als Embryo noch komplett schwarz war, existieren unter Biologen mindestens acht verschiedene Erklärungsansätze, von der Tarnfunktion über die bessere Wärmeableitung bis zum Schutz gegen Insekten durch visuelle Effekte. Es hat Spaß gemacht, sich mit den wichtigsten davon auseinanderzusetzen, denn Grasset ist ein begeisternder Lehrer, der die eigene Faszination an diesem Forschungsprojekt spüren lässt. Richtig ist vermutlich keine einzelne Erklärung, sondern ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Die Evolution funktioniert oft nicht so, wie wir uns das vorstellen.

Absolut witzig sind Grassets Einlassungen zu seinem Lieblingstier, dem testosterongesteuerten, rachsüchtigen Honigdachs, oder auch seine trocken formulierte Analyse von Walt Disneys Trickfilms Der König der Löwen aus der Perspektive eines Biologen. Lehrreich waren auch die Erläuterungen zum bioklimatischen Haus der Termiten, zur Selbstorganisation in Antilopenherden oder zur beeindruckenden Klangwelt der Elefanten. Diese haben ein reichhaltiges Kommunikationsarsenal und können nicht nur über die Luft, sondern auch über den Erdboden kommunizieren, indem sie Botschaften an Artgenossen durch Stampfen übermitteln und die Vibrationen über die Fettpolster in ihren Vorderfüßen wahrnehmen.

In seinem Buch Giraffentheater versammelt Léo Grasset Geschichten um alte und neue Fragen der Biologie, die immer noch offen sind. Er ist ein lebendiger und humorvoller Erzähler, der nicht belehrt, sondern seine Leser auf Entdeckungsreise mitnimmt und zeigt, wie spannend Forschung sein kann.

Auf seinem Youtube-Kanal Dirty Biology gibt es noch mehr von Léo Grasset – für alle, die schnell gesprochenes Französisch verstehen.

Léo Grasset: Giraffentheater – Anekdoten aus der Savanne
Aus dem Französischen von Till Bardoux
Wagenbach Verlag 2016, 144 Seiten
ISBN 978-3-8031-1314-6

Rezension für bild der wissenschaft und wissenschaft.de

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5 Kommentare

  1. Ist der Honigdachs der aus “Die Götter müssen verrückt sein II”? :-D

    • Ja genau. Ob der Autor den Film kennt, weiß ich nicht. Er beschreibt jedenfalls genüsslich dessen fiesen Charakter, seine absolute Furchtlosigkeit und einige beängstigende Gerüchte, die man sich über den Honigdachs erzählt. Ich möchte so einem Tierchen jedenfalls nicht begegnen :)

  2. Die Giraffe kann sich, dank ihrer anatomischen Besonderheit, auf jeden Fall einen Platz in der hintersten Reihe des Theaters leisten. Ich dagegen möchte in die erste Reihe, um mich zu amüsieren. Wie wunderbar ist es doch, dass das Buch dieses Vergnügen jedem einzelnen Leser gewährt. (Jetzt muss ich nur noch irgendwie an dieses Buch gelangen.)

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