Welche Zeichen hinterlassen Wölfe? Wie geht man einem Grizzlybären aus dem Weg? Wo verbirgt sich der scheue Schneeleopard? Der französische Schriftsteller und Philosoph Baptiste Morizot folgt schon seit langem den Spuren wilder Tiere in ihren Lebensräumen. Sein Buch Philosophie der Wildnis ist ein Versuch, sich in die Perspektiven dieser Lebewesen hineinzudenken. Es zieht ihn an Orte, die sich für seine „philosophisch angereicherte Spurensuche“ besonders eignen – auf der Suche nach einem neuen Verhältnis zur belebten Welt.
Im ersten Teil des Buches schildert Baptiste Morizot seine Begegnungen mit verschiedenen Wildtieren. Er zieht mit Freunden in den Wald, übernachtet bei von Wölfen geplagten Schafhirten in der Provence, reist in die Ontario-Wälder Kanadas und begleitet ein Forschungsteam in die kirgisische Steppe. Fast wie ein Anthropologe beobachtet er, folgt den Tieren und trainiert seine Sinne. So macht er uns mit der Komplexität der Spurensuche vertraut:
„Spurenlesen in diesem neuen Sinne heißt auch, die Lebenskunst anderer Wesen verstehen zu lernen, die Gesellschaft der Pflanzen zu studieren oder die kosmopolitische Mikrofauna, die das Leben der Böden ausmacht, ihre Beziehungen zueinander und zu uns: ihre Konflikte und ihre Gemeinsamkeiten mit dem menschlichen Gebrauch der Territorien.“
Dabei entdeckt er faszinierende Gemeinsamkeiten zwischen den Arten. Zum Beispiel bevorzugen Menschen und Wildtiere oft dieselben Aussichtspunkte oder Rastplätze. Sie nutzen bei ihren Streifzügen gern die Wege anderer Spezies. Ihre Fährten und Hinterlassenschaften bezeugen es. – Die Wölfe nimmt Morizot wahr als ebenbürtige, oder vielmehr als höchst aufmerksame, intelligente Lebewesen. Mensch und Wolf beobachten und umschleichen einander – das ist wunderbar erzählt! In diese literarischen Beschreibungen kann man eintauchen und fühlt Sehnsucht nach mehr Nähe zu dieser unvertrauten Welt.
Doch Morizot geht es nicht nur um Tiere in der Wildnis, denn wir teilen unseren Lebensraum, Städte und Wälder, mit vielen anderen Bewohnern, meist ohne sie zu bemerken und ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse. Mithilfe eines Wurmkompostierers in seiner Wohnung ergründet der Autor sogar den Blickwinkel des Regenwurms!
Der zweite Teil des Buches ist eine teils philosophische, teils wissenschaftliche Betrachtung unserer Menschwerdung, und zugleich eine Suche nach dem Ursprung des Spurenlesens. Morizot setzt sich unter anderem mit dem Schamanismus auseinander, mit den Gedanken des Anthropologen Philippe Descola, des Wissenschaftstheoretikers Ian Hacking und der Verhaltensbiologin Temple Grandin. Und er macht uns vertraut mit dem evolutionsbiologischen Konzept der Exaptation: Ein Merkmal oder eine Fähigkeit erhält eine neue Funktion, die nicht dem ursprünglichen Zweck entspricht. So war es auch mit dem Spurenlesen, das ursprünglich dem Überleben und der Jagd diente. Daraus entwickelten sich nicht nur unsere kognitiven Fähigkeiten und unsere Kultur. Die Folge war auch die Freude an der Suche generell, ob nach Beute oder einem Fundstück auf dem Flohmarkt. Die Spurensuche förderte das abstrakte Denken und das Formulieren von Hypothesen. Sie war die Quelle unseres Forschungsdrangs. Was für ein faszinierender Gedanke!
Und so zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit unserem Verhältnis zur Umwelt immer auch eine Auseinandersetzung mit uns selbst ist. Mit seinem Buch Philosophie der Wildnis plädiert Baptiste Morizot für einen aufmerksameren Umgang mit der Natur, für eine Überwindung der Distanz zwischen uns drinnen und der Pflanzen- und Tierwelt da draußen. Inspirierend!
Baptiste Morizot: Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen
Der Originaltitel lautet: Sur la piste animale
Aus dem Französischen von Ulrich Bossier
Reclam Verlag 2020, 191 Seiten
ISBN 978-3-15-011219-9 gebunden
ISBN 978-3-15-020681-2 Taschenbuch
Leseprobe
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