David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes

© Kunstmann

Wie lässt sich das komplexe Ökosystem Wald am besten erforschen? Der Biologe David G. Haskell hatte eine grandiose Idee. Er konzentrierte sich ein Jahr lang auf einen Quadratmeter urtümlichen Waldes im US-Bundesstaat Tennessee. Mit dem Fokus auf diese kleine Parzelle sollte es möglich sein, das große Ganze zu verstehen. Haskell nahm sich das tibetische Mandala zum Vorbild, einen Begriff, der für den Lauf des Lebens oder den ganzen Kosmos, aber auch für Erleuchtung steht.  In seinem Buch Das verborgene Leben des Waldes berichtet er von seinen Erlebnissen während dieser Zeit. Die ausgewählte Parzelle wird darin konsequent als Mandala bezeichnet, was zunächst irritiert, sich im Laufe der Lektüre aber als geeignete Metapher erweist.

Anhand seiner Beobachtungen erzählt Haskell, wie sich der Wald im Jahreszyklus verändert. Er beschreibt die Lebewesen in seiner Umgebung, das Wachstum der Blumen, am Boden kriechende Tiere, Vögel, die den Wald mit ihrem Gesang erfüllen, aber auch abgestorbene Materie wie das Totholz, das dem Wald als Lebensraum und Nährstoff dient, oder die Flugsamen der Bäume, die im Wind tanzen.

Umgeben von Eichen, Hickory- und Ahornbäumen, sitzt der Autor oft stundenlang auf einem großen Findling bei seinem Mandala und lässt den Wald mit allen Sinnen auf sich wirken. Bewusst setzt er sich nackt der Kälte aus (bei – 20 Grad!) oder lässt sich von einer Mücke stechen, um anhand dessen biologische Phänomene zu erläutern. Sein Blick durchwandert alle Schichten des Mandalas, folgt den Trittspuren eines Weißwedelhirsches oder dem Flug der Carolina-Meisen. Manchmal liegt er geduldig mit einer Lupe auf dem Erdboden, ganz in ein Lebewesen vertieft.  Er analysiert die Geräuschkulisse, saugt die Gerüche ein und ist immer hochkonzentriert.

Seine Devise, sich unauffällig zu verhalten, kann er nicht immer umsetzen, denn natürlich wird er auch von den Bewohnern des Waldes bemerkt – und besetzt:

Ein Nachtfalter schiebt seine gelblich-braunen Füße über meine Haut, ertastet sie mit Tausenden chemischer Sensoren. Sechs Zungen! Mit jedem Schritt bricht sich eine neue Empfindung Bahn. Wenn der Falter über eine Hand oder ein Blatt läuft, muss es so sein, als schwömme man durch Wein – mit offenem Mund. Mein Jahrgang scheint dem Nachtfalter zuzusagen, sein Saugrüssel entfaltet sich, entrollt sich zwischen zwei leuchtend grünen Augen.

Der Falter benutzt seinen Finger als Salzquelle, um das Salz vor der Paarung an seine Partnerin weiterzugeben! Ein anderes Mal wird der Biologe von einem Weißwedelhirsch als Bedrohung wahrgenommen und lernt sogleich das “akustische Netzwerk” des Waldes kennen. Ein Lebewesen warnt alle anderen vor Eindringlingen und löst eine Kaskade von weiteren Signalen aus. Erst nach einer Stunde kehrt wieder Ruhe ein!

David Haskell ist ein genauer Beobachter. Dank seiner sinnlichen Beschreibungen bin ich als Leserin mittendrin im Wald und staune mit ihm! Wir lernen etwas über die raffinierte Zellchemie der Moose, den Fortpflanzungsakt der hermaphroditischen Schnecken oder die chemischen Austauschprozesse zwischen Baumwurzeln und Pilzen, die eine Symbiose bilden. Gebannt lese ich von der Schönheit der Schneeflocke, deren 6-eckige Form schon Johannes Kepler zu erklären versuchte, oder wie es Vögeln gelingt, durch das Fressen von Schnecken Kalk für die Eierschale ihrer Brut zu gewinnen.

Die Überlebensstrategien der verschiedenen Waldbewohner haben sich über einen langen Zeitraum entwickelt. Um zu überleben, gehen viele Tiere und Pflanzen Symbiosen mit Partnern ein, die ihre Samen verbreiten oder sie vor Feinden schützen. Andere Waldbewohner lernten, sich durch optische Tricks oder chemische Abwehrmaßnahmen abzusichern. Das Wirken der Evolution wird vom Autor durch viele Beispiele verdeutlicht. Alles dient nur einem Zweck: dem Überleben.

Der Motor der Evolution wird durch genetisches Eigeninteresse angetrieben, das sich jedoch genauso gut in kooperativem Handeln wie im Egoismus des Einzelnen manifestieren kann. In der Ökonomie der Natur gibt es genauso viele Gewerkschafter wie Raubtierkapitalisten, genauso viel Solidarität wie eigensinniges Unternehmertum.

Dies ist nicht nur ein Buch über den Wald, sondern natürlich auch über den Menschen, unsere Eingriffe in das Ökosystem und die daraus resultierende moralische Verpflichtung. Der Autor fordert mehr Aufmerksamkeit und Respekt für die andersartige, uns fremde Welt, die schon lange vor dem Menschen existierte und die wir nun gefährden.

Das Mandala, das David G. Haskell vor uns ausbreitet, öffnet den Blick für die Waldgemeinschaft mit ihren vielfältigen Wechselwirkungen. Alles hat seinen Platz in dieser verborgenen Welt. Man muss nur genau hinschauen, vielleicht gleich beim nächsten Waldspaziergang!

Am liebsten würde ich mir dieses Buch vorlesen lassen und nochmals in den Wald eintauchen. Lieber Kunstmann Verlag: Mach doch bitte ein Hörbuch daraus! Dieser Text wäre so perfekt geeignet dank der sinnlichen, fast poetischen Sprache, ins Deutsche wunderbar von Christine Ammann übertragen! Die englische Hörbuchfassung ist leider schwer zugänglich, aber auf der Website zum Buch, The Forest Unseen, gibt es immerhin vom Autor gelesene Auszüge.

Nachtrag: Wissensbuch des Jahres 2016 in der Kategorie Überraschung

David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes – Ein Jahr Naturbeobachtung
Aus dem Englischen von Christine Ammann
Kunstmann Verlag 2015, 328 Seiten mit Farbfotos
ISBN 978-3-95614-061-7 Hardcover
ISBN 978-3-442-22198-1 Taschenbuch
Leseprobe

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20 Kommentare

  1. Ein Buch ganz nach meinem Geschmack!
    Danke für den Tipp
    LG Erich

  2. Pingback:Vorfreuden für Leseratten II Herbst 2015 – Elementares Lesen

  3. Wo ich Bäume ja so liebe, selbstverständlich vorgemerkt – für eine Doppelrezension.

  4. Auch ich danke für diesen Lesetipp. Es hört sich spannend an, wie poetisch der Lebensraum geschildert wird. Das erinnert mich auch an Kerstin Ekmans Buch “Der Wald”, das ich mir immer mal kaufen wollte. Viele Grüße

    • So ist Wissenschaft weit entfernt von langweilig! Haskell hat auch etwas gegen die vermeintliche Objektivität von Wissenschaftlern. Das tut dem Buch gut.
      Das Buch von Ekman könnte mir auch gefallen!

  5. Das Buch würde wunderbar zu meiner erst kürzlich gelesenen Lektüre “Das geheime Leben der Bäume” von Peter Wohlleben passen. Es war ein “Notkauf” für meine Lieben daheim. Sie wollen ständig meiner Eiche an den Kragen, weil sie “soviel Dreck” macht und manche Äste es wagen zu weit hinauszuwachsen. Da habe ich auch schon ein wenig über die erstaunliche Symbiose von Baumwurzeln und Pilzen erfahren. Danke für Deine Vorstellung!

    • Die beiden Bücher ergänzen sich bestimmt gut. Ich habe auch schon ein Auge auf Das geheime Leben der Bäume geworfen. Viel Glück bei deinem Rettungsversuch!

  6. Pingback:Das Leben auf einem Quadratmeter WaldKaugeräusche.de | Kaugeräusche.de

  7. Buchtipp passend zum Thema:
    Fred Hageneder: Der Geist der Bäume. Eine ganzheitliche Sicht ihres unerkannten Wesens.
    Viele Grüße!

  8. Pingback:Totholz (2) | mannigfaltiges

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