Verlorene Wildnis
Wälder, in die der Mensch nicht mehr eingreift – ist das die Rückkehr zu den Ursprüngen, zu einer heilen Welt voller Artenvielfalt? Um neue Wildgebiete zu fördern, könnte man Wälder sich selbst überlassen. Doch damit schaden wir der Natur mehr als ihr zu nützen, meint der Biologe und preisgekrönte Naturfilmer Jan Haft. Statt Biodiversität verstärkt sich nur der Artenschwund. In seinem Buch Wildnis rückt Haft unser Bild von den wilden Wäldern der Vergangenheit zurecht und stellt neue Konzepte vor, um den massiven Verlust von Arten zu bekämpfen.
Biodiversität durch große Pflanzenfresser
Vor der Ausbreitung des Menschen gab es in Mitteleuropa noch große Pflanzenfresser, die die Vegetation kurz hielten, zum Beispiel Hirsche, Mammuts, Auerochsen und Wildpferde. Sie verhinderten die Verbuschung und prägten stattdessen offene Landschaften, mit einer Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten. Auch in manchen Kulturlandschaften, die unter menschlichem Einfluss entstanden, zum Beispiel in Hutewäldern mit Weidetieren, gab es eine große Artenvielfalt. Doch inzwischen sind viele der sogenannten Megaherbivoren ausgerottet, und damit ihr positiver Einfluss auf die Ökosysteme.
Die Wiederherstellung intakter Wälder und Wiesen ist ohne diese Tiere gar nicht so einfach, erklärt Jan Haft. Wenn man Wälder sich selbst überlässt, herrscht dort irgendwann Dunkelheit. Nur wenige Arten sind an einen schattigen Lebensraum angepasst. Mehr Biodiversität finden wir daher auf Lichtungen und am Waldrand. Auch Wiesen regenerieren sich nicht von allein – für eine artenreiche Flora und Fauna braucht es gezielte Eingriffe.
Offenland und Wilde Weiden statt dunkle Wälder
Haft schlägt vor, dass wir als Ersatz für verlorene Ökosysteme eine neue Wildnis mit Nutztieren schaffen. An einigen Beispielen erklärt er die Vorteile solcher Gebiete: am Freiluftlabor der Universität Aarhus in Dänemark, der Döberitzer Heide bei Berlin und einer offenen Landschaft in Transsilvanien (Rumänien), wo Haft einen Film über den bei uns ausgestorbenen Orangeroten Heufalter drehte (Die Geschichte vom orangeroten Heufalter – sehenswert!). Im Buch berichtet er von dieser Rumänien-Reise und vom harmonischen Miteinander der Pferde und Wasserbüffel, die beim Grasen den idealen Lebensraum für selten gewordene Orchideen, Vögel und Insekten wie die Orangeroten Heufalter schaffen. Bemerkenswert finde ich auch, was Haft über das pralle Leben im Dunghaufen eines Wasserbüffels schreibt: der Dung ist Lebensraum für Tausende Insekten, die sich darin vermehren und zahlreiche Freßfeinde anziehen – sie sind der Beginn einer langen Nahrungskette! Schon allein für solche Beobachtungen lohnt sich dieses Buch, in dem ökologische Zusammenhänge super erklärt werden!
Jan Haft stellt unsere Vorstellung von Wäldern als intakten Ökosystemen auf den Prüfstand und engagiert sich für eine neue Wildnis. Hier im Blog habe ich bereits sein fantastisches Buch Die Wiese vorgestellt – und bin auch vom neuen Werk begeistert!
Nominiert als Wissensbuch des Jahres 2023 in der Kategorie Überraschung.
Jan Haft: Wildnis – Unser Traum von unberührter Natur
Penguin Verlag 2023, 144 Seiten
ISBN 978-3-328-60273-6
Leseprobe
Eine weitere positive Besprechung findet ihr im Blog Buchbube.