Lloyd Spencer Davis: Das geheime Liebesleben der Pinguine

Auf den Spuren eines Polarforschers in der Antarktis

Für die Pioniere der Antarktis waren Pinguine in erster Linie Nahrung. Doch als George Murray Levick den Winter 1911 auf Kap Adare verbrachte, wurden sie erstmals zum Studienobjekt, und Levick zum ersten Pinguinforscher. In seinem Buch Das geheime Liebesleben der Pinguine begibt sich der neuseeländische Pinguinexperte Lloyd Spencer Davis auf Spurensuche nach diesem von der Geschichte vergessenen Mann. Ein Buch, dessen Lektüre ich beinahe abgebrochen hätte.

George Murray Levick war Schiffsarzt bei Robert Falcon Scotts Terra Nova-Expedition 1910 bis 1913. Während Scotts Team auf dem Weg zum Südpol war, sollte Levick als Mitglied der Nordgruppe Küsten und Land kartieren. Doch der Weg war versperrt und zwang sein Team zum Überwintern an einem schmalen Strand. Dort teilten sich die sechs Männer unter härtesten Bedingungen den Platz mit einer Kolonie Adeliepinguine.

Splitter aus dem Familienleben von Pinguinen und ihrer Erforschung

Von wegen lebenslange Treue, Liebe und Aufopferung! Was wir über Pinguine zu wissen glauben, ist ein geschöntes Bild der Realität. Im Buch werden viele Mythen entlarvt. In Wirklichkeit gibt es z.B. brutale Kämpfe, Trennungen, homosexuelle Praktiken, Sex mit toten Artgenossen und den Diebstahl von Nistmaterial. Davis beschreibt, mit welchen Methoden er das Leben der Pinguine erforscht und welche unterschiedlichen Motive das Verhalten der Männchen und Weibchen bestimmen.

Murray begann 1911 mit der Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens der Tiere. Doch in seinem Buch Antarctic Penguins war keine Rede von den verstörenden Aspekten. Erst 2011 wurden die Originalseiten aus seinem Forschungsbericht wiederentdeckt: mit Geheimschrift und überklebten Stellen. Davis versucht sich in Levick hineinzudenken. Dessen viktorianische Moralvorstellungen beeinflussten seine Interpretation und hinderten ihn daran, die Beobachtungen unverfälscht zu veröffentlichen.

Der Buchtitel Das geheime Liebesleben der Pinguine – Ein vergessener Polarforscher, ein aufregender Fund und eine erstaunliche Erkenntnis klingt sehr umständlich und erweckt den Eindruck, dass es hauptsächlich um Pinguinforschung geht. Das ist jedoch nur ein Nebenaspekt, der in kleinen Splittern über den ganzen Text verteilt ist.

Forschungsreisen zu Nord- und Südpol und der Wettlauf zwischen Scott und Amundsen

Lloyd Spencer Davis erzählt von Helden und Verlierern verschiedener Polarexpeditionen, darunter Fridtjof Nansen, Carsten Borchgrevink und Ernest Shackleton. Besonders geht er auf Roald Amundsens Durchquerung der Nordwest-Passage ein. Denn bei dieser Reise lernte der Norweger von den Inuit viele Überlebenstechniken, die ihm später am Südpol halfen. Authentisch beschreibt Davis das harte, entbehrungsreiche Leben der frühen Forscher in der Antarktis. Er arbeitet die Unterschiede zwischen Amundsen und Scott heraus: ihre charakterlichen Stärken und Schwächen, und die Unterschiede bei der Vorbereitung und Ausrüstung ihrer Expeditionen. Diese Faktoren entschieden während der Reise zum Südpol über Leben und Tod, Erfolg und Misserfolg. Untermauert werden die Schilderungen mit Auszügen aus Tagebüchern und Berichten der Männer. Man kann die Demoralisierung von Scotts Team nachfühlen, als sie erkannten, dass Amundsen ihnen am Südpol zuvor gekommen war.

Durchwachsenes Fazit

Die Lektüre war anstrengend, denn Lloyd Spencer Davis hüpft munter zwischen Themen und Zeiten hin und her: Pinguine, Recherchen zu Murrays Werdegang, diverse Polarforscher auf ihren Reisen, seine eigenen Expeditionen als angehender Wissenschaftler, – so dass man gelegentlich den Faden verliert. Eine Konzentration auf weniger Aspekte hätte mir besser gefallen. Außerdem war ich befremdet von Davis´ seltsamen Vergleichen zwischen dem Liebesleben von Mensch und Pinguin. Er lässt sich über die Attraktivität der Forscher, ihre Paarbeziehungen und Seitensprünge aus. Über Murrays Beweggründe spekuliert er, ohne dem „vergessenen Helden“ näherzukommen.

Als ich mich bis zur zweiten Buchhälfte durchgekämpft hatte, wurde es besser: die Schilderung des dramatischen Wettlaufs zwischen Scott und Amundsen fand ich spannend. Insgesamt war das Buch eine gute Ergänzung zu dem, was ich bereits über Polarforschung gelesen habe. Wer sich aber für Pinguine interessiert, wird sicher enttäuscht sein.

Einen besseren Eindruck hinterließ das Buch bei Ilona Jerger auf Spektrum.de und Günther Wessel im Deutschlandfunk Kultur. Auf Esthers Bücher erklärt Eszter Bolla, warum sie die Lektüre abgebrochen hat. Eine weitere kritische Meinung findet ihr bei the little queer review.

Lloyd Spencer Davis: Das geheime Liebesleben der Pinguine – Ein vergessener Polarforscher, ein aufregender Fund und eine erstaunliche Erkenntnis
Originaltitel: A Polar Affair: Antarctica`s forgotten Hero and the Secret Love Lives of Penguins
DVA 2021, 384 Seiten mit Farbfotografien
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
ISBN 978-3-421-04852-3
Leseprobe

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6 Kommentare

  1. Danke für die ehrliche Rezension. Ohne deine Rezension wäre ich eine der enttäuschten Leser gewesen, denn aufgrund des Titels hatte ich mir die Themengewichtung im Buch etwas anders vorgestellt. Dann lese ich lieber etwas anderes. :)

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