Menno Schilthuizen: Darwin in der Stadt

Cover Schilthuizen Darwin Stadt

© dtv

Während immer mehr natürliche Lebensräume zerstört werden, entwickeln sich Städte zum Rückzugsort vieler Tiere und Pflanzen. Die Artenvielfalt ist inzwischen größer als auf dem Land, stellt der Evolutionsbiologe Menno Schilthuizen fest. Und die Mechanismen der Evolution wirken hier besonders schnell! In seinem spannenden Buch Darwin in der Stadt – Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel ist der Spezialist für Biodiversitätsforschung den Überlebenstricks dieser Arten auf der Spur.

 

Der Mensch als Ökosystem-Ingenieur
Ökosystem-Ingenieure sind Lebewesen, die ihre Umwelt nach den eigenen Bedürfnissen gestalten und damit Lebensraum für andere Arten schaffen. Das tun wir Menschen laut Schilthuizen ebenso wie zum Beispiel Ameisen, Korallen und Biber. Das Ökosystem Stadt besteht aus vielen Nischen und Kleinsthabitaten für Bewohner, die sich an Lärm, Menschen, Straßenverkehr, höhere Temperaturen und weitere Faktoren anpassen können. Auf dem Lande zerstört der Mensch ihre Lebensräume. Doch Gebäude, Parks und Gewässer bieten vergleichbare Lebensräume zur ursprünglichen Heimat. Hier fehlen die natürlichen Feinde, und Nahrung gibt es genug.

Paradies für Vögel
Vor allem Vögel haben die Städte der Welt erobert. Viele leben schon lange in der Nähe von Menschen, zum Beispiel Meisen, Austernfischer und Mauersegler. Sie sind Kulturfolger und bereits an menschliche Siedlungen angepasst. Schilthuizen schlendert mit einem Biologen durch eine Hausspatzen-Kolonie in seiner Heimatstadt Leiden. Ihre ursprüngliche Heimat aus dornigen Gebüschen haben die Nachfahren dieser Vögel gegen eine Fahrrad-Garage in Bahnhofsnähe eingetauscht – für Nahrung ist immer gesorgt. Auch Halsbandsittiche sind in vielen Großstädten dank menschlicher Mithilfe sesshaft geworden. Gebäude und Straßen speichern genug Wärme, so dass diese tropischen Vögel sich auch in Europa wohlfühlen. In Paris trifft der Autor eine Phylogeografin, die anhand bestimmter Markergene versucht, deren Herkunft und Besiedlungsrouten zu ermitteln. Spatzen und Gimpel in Mexico City verbauen in ihren Nestern Zigarettenkippen, denn Nikotin wirkt gegen Milben! Stadtamseln brüten früher als ihre ländlichen Schwestern und haben das Ziehen zwischen Sommer- und Winterquartieren aufgegeben. Vielleicht kam es hier sogar zu einer Speziation, der Entstehung einer neuen Art, meint Schilthuizen. Er nennt sie “Turdus urbanicus”.

Neophilie
Neugier, keine Menschenscheu und Einfallsreichtum helfen den Tieren bei der Anpassung an das Stadtleben. Diese “Neophilie” besaßen auch Aaskrähen in der japanischen Stadt Sendai. Auf dem Gelände einer Fahrschule platzierten sie Walnüsse, um sie von langsam fahrenden Autos knacken zu lassen – “heiliger Boden” für Stadtökologen, denn von hier aus verbreitete sich dieses Verhalten!

Rasante Evolution
Anders als Charles Darwin meinte, kann die Evolution erstaunlich schnell verlaufen. Im Ökosystem Stadt können wir sie sogar direkt beobachten. Dort lebende Arten sind zu einer beschleunigten Anpassung gezwungen. Wanzen in Florida passten ihre Rüssellänge an die Samen eines aus China importierten Baums an. Manche Arten lernen mit Schadstoffen und Schwermetallen umzugehen, wie die Blaubandkärpflinge in mit PCB belasteten Hafengewässern. Die Gelbe Gauklerblume wächst in Industriebrachen mit von Kupfer verseuchten Böden. An Orten, wo im Winter viel Salz gestreut wird, entwickeln Tiere und Pflanzen eine Toleranz dagegen. Künstliche Barrieren wie Straßen zerstückeln die Lebensräume vieler Arten und trennen Populationen, die sich genetisch auseinander entwickeln. So haben Weißfußmäuse, die in verschiedenen New Yorker Parks leben, inzwischen unterschiedliche DNA! Gut nachvollziehbar erklärt der Autor, welche Faktoren hier zusammenwirken.

Ein faszinierendes Panorama städtischer Lebenswelten
Wenn ihr wissen wollt, wie Evolution funktioniert und warum sie ausgerechnet in Städten besonders schnell verläuft, dann lest Darwin in der Stadt! Menno Schilthuizen ist ein lebendiger, amüsanter Erzähler, der einen ungewohnten Blick auf die Anpassungsfähigkeit vieler Lebewesen wirft. Er verblüfft uns mit vielen, sehr unterschiedlichen Beispielen für das Wirken der Evolution. Der Autor war in Städten wie London, Rotterdam, Singapur und Paris unterwegs zu besonderen ökologischen Nischen. Seine Gespräche mit Naturforschern und Wissenschaftlern vor Ort lockern die gehaltvollen Erläuterungen zur Evolution angenehm auf. Das Ökosystem Stadt erscheint in einem ganz neuen Licht!

Wissensbuch des Jahres 2019 in der Kategorie Überraschung.

Menno Schilthuizen: Darwin in der Stadt – Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel
Aus dem Englischen von Kurt Neff und Cornelia Stoll
dtv 2018, 368 Seiten mit 20 Schwarz-Weiß-Fotografien
ISBN 978-3-423-28990-0
Leseprobe

Rezension für bild der wissenschaft und wissenschaft.de

Beitrag empfehlen

9 Kommentare

  1. Ach Menno! Ich fand schon Darwins Peepshow äußerst interessant und amüsant, sodass ich wohl auch Schilthuizens neuestes Buch lesen muss! Vielen Dank für den tollen Tipp.

  2. Vor einer Weile lief (entweder bei “Aspekte” oder “Titel, Thesen, Temperatmente”) ein recht interessanter Fernsehbeitrag zu dem Buch. Dank Deiner Empfehlung ist es aber gleich noch ein wenig weiter in meiner Wunschliste nach oben gewandert.

  3. Unser Hundchen hatte heute seine Zahnreinigung (sowas gibt’s), und als der Tierarzt sie wieder gebracht hat, haben wir uns ein bisschen über die Fauna von Querétaro unterhalten. Vor ein paar Tagen habe ich nämlich beim Spaziergang mit dem Hundchen in den Bäumen neben einer der Hauptstraßen Papageien gesehen. Unser Tierarzt hat mir erzählt, dass es die erst seit drei oder vier Jahren gibt — wurden wohl von der Küste eingeschleppt und sind jetzt hier. Eigentlich ist der Lebensraum hier ganz anders als an der Küste, wo sie sonst leben, aber es geht ihnen scheinbar gut, sie haben sich schnell an die neue Nahrung angepasst, und inzwischen gibt es sogar ziemlich große Kolonien. Wäre interessant, sich die Tiere in ein paar Jahren anzusehen und herauszufinden, ob sich die Stadtpapageien allmählich von ihren Verwandten am Meer unterscheiden. (In Köln, lese ich grade, gibt es übrigens auch Papageien. Wäre interessant herauszufinden, wie die mit dem Winter umgehen!)
    Viele Grüße aus Mexiko!

    • Zahnreinigung für Hunde? Faszinierend! Ich kannte bisher nur diese Zahnpflege-Snacks, auf denen sie herumkauen können ;-) – Tja, in Mexiko ist es mit den Tieren in der Stadt ähnlich wie in Deutschland. Menno Schilthuizen verwendet in seinem Buch den Begriff Telekopplung (von der Stadtökologin Marina Alberti eingeführt). Das bedeutet, dass in allen Städten vergleichbare Tierarten ähnliche Nischen besetzen, da die Städte sich in ihrer Infrastruktur immer mehr angleichen. Bei einem Besuch in Düsseldorf habe ich auch schon mal Halsbandsittiche gesehen. Bin durch ihr Geschnatter aufmerksam geworden und habe ganz schön gestaunt! Über die Kölsche Population habe ich kürzlich einen interessanten Bericht von den Riffreportern gelesen. Sie profitieren von den städtischen Wärmeinseln. Offenbar werden sie aber von einer anderen Art bedrängt. Mal sehen, wie das ausgeht.
      Liebe Grüße aus der Pfalz!

  4. Pingback:Wissensbuch des Jahres 2019 – Die Nominierungen | Elementares Lesen

  5. Pingback:Highlights des Jahres 2019 | Elementares Lesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert