Tim Birkhead: Die Sinne der Vögel

Cover Birkhead Sinne der Voegel

© Springer Spektrum

Sich in einen Vogel hineinzuversetzen ist gar nicht so einfach. Dem britischen Verhaltensökologen und Ornithologen Tim Birkhead ist mit seinem großartigen Buch Die Sinne der Vögel eine Annäherung an die Wahrnehmungsfähigkeit der Vögel gelungen. Er hat viele Unterschiede, aber auch erstaunlich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Sensorium von Vögeln und Menschen entdeckt, die er leicht verständlich und sehr unterhaltsam präsentiert. Fachwissen ist hier mit Humor und Hingabe vereint. Der Autor berichtet von seinen Exkursionen nach Florida, Neuseeland oder Sambia, zieht eigene und fremde Studien heran und kniet sich in die faszinierende historische Fachliteratur zur Ornithologie.

Dass Vögel außerordentlich gut hören und sehen können, steht außer Frage. Da übertreffen sie die Menschen deutlich. Dass sie aber auch fähig sind zu riechen, zu schmecken und zu tasten, wurde Jahrhunderte lang bestritten. Die Sinneswelt der Vögel ist erstaunlich komplex und vielfältig! Da gibt es nicht nur von Art zu Art sehr große Unterschiede, sondern sogar jahreszeitliche Schwankungen! Durch genaue Beobachtung sind die Forscher vergangener Jahrhunderte schon zu differenzierten Einsichten gelangt, haben sich aber dank mangelnder Vorstellungskraft auch die aberwitzigsten Irrtümer geleistet. Tim Birkhead erzählt mit leichter Hand von den Meilensteinen in der Geschichte der Ornithologie. Heute helfen Forschungsmethoden wie die Ausstattung der Vögel mit Sendern, ausgeklügelte Experimente und Beobachtungen sowie bildgebende Verfahren beim Verständnis der Vogelwelt.

Die hier gewonnenen Erkenntnisse nützen auch dem Menschen, zum Beispiel in der Neurobiologie, wo der kindliche Spracherwerb erforscht wird:

“Früher nahm man an, Kinder könnten jede Sprache erlernen, der sie ausgesetzt sind, weil sie als eine Art unbeschriebenes Blatt zur Welt kämen. Das Studium des Vogelgesangs bereitete dieser Vorstellung ein Ende, indem es zeigte, dass Jungvögel zwar fast jeden Gesang lernen können, den sie hören, aber dennoch eine genetische “Schablone” besitzen, die vorgibt, was sie tatsächlich lernen und wie sie singen. Studien darüber, wie Vögel ihren Gesang erlernen, haben besonders überzeugende Belege dafür geliefert, dass es keine Trennung zwischen Angeborenem und Erlerntem gibt: Gene und Lernen sind bei Vogeljungen wie bei Babys eng miteinander verknüpft. Dank des Studiums der Neurobiologie des Vogelgesangs erkennen wir allmählich das riesige Potenzial des menschlichen Gehirns, sich selbst zu reorganisieren und in Reaktion auf bestimmte Inputs neue Verbindungen zu knüpfen.”

Dies ist nur eines von mehreren Beispielen für die Übertragung der Ergebnisse aus ornithologischen Forschungsprojekten auf den Menschen. Inzwischen gibt es eine rege interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Birkhead betrachtet die Sinne der Vögel in separaten Kapiteln, auch wenn ihm bewusst ist, dass normalerweise mehrere Sinne zusammenarbeiten.

Sehen und Gesehen werden Bei der Lektüre des Buches konnte ich beispielsweise die vielen Besonderheiten der Vogelaugen  bewundern, die uns in vieler Hinsicht überlegen sind: doppelte statt einfacher Sehgruben, Sehen im ultravioletten Bereich, eine Nickhaut zum Schutz… Ich bin fasziniert von balzenden Männchen, die ihr prächtiges Gefieder unter Berücksichtigung des optimalen Hintergrunds und Lichteinfalls zur Schau stellen. Hier geht es um Sehen und Gesehen werden – clever!

Hören und sich Gehör verschaffen Außerdem habe ich den Cocktailpartyeffekt kennengelernt,  und zwar in großen Brutkolonien, wo es Trottellummen gelingt, in dem Gewimmel und Gekreische über große Distanzen ihre Familienmitglieder herauszuhören. Alles eine Frage der Konzentration. – Vögel können unglaublich schön, aber auch unglaublich laut und schrill singen, bis zu 100 Dezibel bei Wachtelkönigen sind möglich. Der Gesang einiger Vogelarten trägt mehrere Kilometer weit! Zum Glück sind Vögel vor ihrem eigenen Gesang geschützt, im Gegensatz zu Vogelkundlern, die ihren Gesang erforschen. Durch einen Reflex verschließt eine Hautklappe kurzfristig den inneren Gehörgang und verhindert so, dass das Gehör des Vogels geschädigt wird.

Tasten mit Schnabel und Haut Wo Menschen ihre Finger einsetzen, benutzen viele Vögel ihren überaus empfindlichen Schnabel, der mit Tastrezeptoren versehen ist. Der hilft Enten und anderen Vögeln, die im Wasser oder im Boden stochern, beim Finden der Nahrung. Auch für die Gefiederpflege bei ihren Artgenossen ist der Tastsinn wichtig, um Parasiten ausfindig zu machen. Nicht zu vergessen der Brutfleck, mit dem Vögel ihre Eier bebrüten. Dieser Bereich der Haut ist während der Brutzeit fast frei von Federn und extrem druck- und temperaturempfindlich, damit die Eier und die Küken nicht verletzt werden. Wie komplex der Tastsinn wirklich ist und welche Lücken die Forschung noch schließen muss, wird in Tim Birkheads Ausführungen deutlich.

Riechkolben statt Nase Die Fähigkeit zu riechen wurde Vögeln lange Zeit abgesprochen. Erst in den 60er Jahren gelang es den Beweis zu erbringen, dass Vögel einen funktionstüchtigen Riechkolben besitzen. Birkhead gibt einige Anekdoten über Aasfresser zum Besten, deren Verhalten lange Zeit falsch interpretiert wurde. Bei nachtaktiven und am Boden lebenden Vögeln sind die Riechkolben besonders stark ausgeprägt.

Kompass an Bord Neben den fünf Sinnen, die Vögel mit uns gemeinsam haben, beschreibt Birkhead auch den Magnetsinn, der die Vögel befähigt, über gewaltige Strecken zwischen ihren Sommer- und Winterquartieren zu navigieren. Wie das genau funktioniert, ist noch nicht ganz klar. Dank Geolokatoren, mit denen Vögel ausgestattet werden, macht die Forschung in letzter Zeit große Fortschritte.

What a Feeling Ein weiteres Thema des Buches ist das Gefühlsleben der Vögel. Vögel sind sehr sozial lebende Tiere, die fürsorglich miteinander umgehen. Ob sie wirklich zu fühlen imstande sind, wird unter Ornithologen kontrovers diskutiert. Es gibt aber Indizien wie Begrüßungsrituale oder die Anzeichen von Liebe, Trauer oder Schmerz, die darauf hindeuten. Forscher tun sich zu Recht schwer, aus vertrautem Verhalten auf eine ähnliche Gefühlswelt zu schließen.

“Unsere eigene Sinneswahrnehmung liefert uns nur einen Ausgangspunkt, um zu verstehen, wie Vögel die Welt erleben, und solange uns klar ist, dass sie Sinne besitzen, über die wir nicht verfügen, und wir nicht automatisch annehmen, dass die Sinne, die sie mit uns gemein haben, mit den unsrigen identisch sind, können wir allmählich ein gewisses Verständnis für ihre Welt entwickeln.”

Wie es wirklich ist, ein Vogel zu sein, werden wir wohl nie erfahren. Aber wir sind immer besser in der Lage, das Verhalten und die Wahrnehmung von Vögeln zu verstehen und daraus Schlüsse über menschliche Hirnfunktionen und Lernvorgänge zu ziehen. In diesem Buch erfährt der Leser eine Fülle interessanter Details aus der Vogelwelt und lernt zugleich eine Menge über die menschliche Anatomie.

Tim Birkhead begann schon als Kind sich für Vögel zu interessieren und machte dies später zu seinem Beruf. Die Ornithologie ist seine Leidenschaft, was man in jeder Zeile spüren kann. Er ist Autor vieler ornithologischer Bücher, die bisher leider noch nicht in deutscher Sprache erhältlich sind, z.B. Ten Thousand Birds oder The Wisdom of Birds. Zum letzten Buch gibt es einen unterhaltsamen Vortrag in der Reihe TED-Talk.

Auf knapp 160 Seiten plus Anhang lernen wir einen ganzen Kosmos kennen, denn Birkhead vereint eine große Bandbreite von Vogelarten in verschiedenen Lebensräumen quer durch die Jahrhunderte der Vogelkunde. Ein wunderbares, sehr vielseitiges Buch, das nicht nur Vogelfreaks und Naturinteressierte begeistern wird!

(Das Buch verfügt über wenige, aber sehr schöne Illustrationen von Katrina van Grouw.)

Tim Birkhead: Die Sinne der Vögel – Wie es ist, ein Vogel zu sein
Aus dem Englischen von Monika Niehaus
ISBN 978-3-662-55864-5 (2. Auflage 2018), 210 Seiten
Verlag Springer Spektrum 2015

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9 Kommentare

  1. Liebe Petra,
    habe ich Dir schon einmal gesagt, daß ich auf Deine Buchbesprechungen FLIEGE?
    Sie sind alle äußerst ansprechend, wissenswert und neugierweckend …
    Beflügelte Grüße :-)
    Ulrike

  2. Liebe Petra,
    das macht total neugierig… denn tatsächlich habe ich mich immer wieder auch gefragt, ob Vögel riechen können. Und Tim Birkhead zieht mir da die Nase lang und zeigt auf den Vogel-Riechkolben. Tolle Vorstellung eines offenbar sehr interessanten Buches!

  3. Danke für den Tipp — das hört sich nach einem sehr interessanten Buch an!

    Wie mir scheint, sind Vögel als Forschungsobjekt noch längst nicht ganz erschlossen. Dazu passt wohl auch, dass man offenbar gar nicht so recht weiß, ob manche Vogelarten überhaupt existieren oder “Fantasieprodukte” sind:
    http://www.nytimes.com/2015/08/23/nyregion/five-mystery-birds-among-audubons-paintings.html?_r=0

    • Stimmt, das schreibt auch Birkhead. Danke dir für den interessanten link! Über den Maler Audubon gibt es im Buch übrigens ein kurzes Porträt, da er auch Vogelstudien betrieb und am Mythos des fehlenden Geruchssinns von Vögeln mitgewirkt hat. Aber seine Bilder sind fantastisch!

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