Erling Kagge: Stille – Ein Wegweiser

Cover Kagge Stille

© Insel

Was ist Stille? Das Fehlen von Lärm? Die totale Abwesenheit von Geräuschen? Schweigen? Ist Stille ein Zustand der inneren Ruhe? Rasen die Gedanken, wenn es um uns herum still ist? Stille bedeutet für jeden von uns etwas anderes. Für den einen ist sie entspannend, für den anderen bedrohlich.

Der norwegische Autor, Verleger und Abenteurer Erling Kagge hat die Stille an extremen Orten erlebt. Er war am Nordpol, am Südpol und auf dem Mount Everest. In seinem Buch Stille – Ein Wegweiser widmet er sich diesem Thema in 33 kurzen Versuchen. Kagge reflektiert über seine persönlichen Erfahrungen mit der Stille während seiner Wanderung in der Antarktis. Er lässt Philosophen wie Ludwig Wittgenstein und Blaise Pascal zu Wort kommen. Die Künstlerin Marina Abramovic´, den Schriftsteller Jon Fosse und den Unternehmer Elon Musk fragt er, was Stille ihnen bedeutet – und erhält überraschende Antworten. Kagge erkundet verschiedene Ebenen der Stille: Stille als unerträgliche Langeweile – die aufregende Stille zwischen den Tönen eines Musikstücks – das gemeinsame Schweigen in einer Beziehung oder beim Erlebnis der Natur.

Stille hat auch eine visuelle Dimension. Der Anblick des klaren Sternenhimmels ist für Kagge visuelle Stille – ein Luxus, der wegen der allgegenwärtigen Lichtverschmutzung selten geworden ist. Visuelle Stille ist ein interessantes Konzept, über das es sich nachzudenken lohnt. Ich finde diese Form der Stille auch beim Anblick einer weiten Landschaft. Oder eines aufgeräumten Zimmers.

Kagge kennt den Wert der Stille. Sie ist ihm wichtig – als Werkzeug, um die Welt auszusperren und ganz bei sich zu sein. Stille gibt Zeit zum Staunen, Zeit, um Dinge neu zu denken. Viele Wege führen zur Stille, selbst in lauter Umgebung. Kagge verschont uns weitgehend mit Ratschlägen, sondern fordert uns auf, die Stille in uns selbst zu entdecken. Sein Buch weckt Assoziationen. Auch darin liegt seine Kraft.

Stille ist definitiv mehr als nur die Abwesenheit von Geräuschen. Beim Wort Stille denke ich zugleich an das Gegenteil – und vieles andere: Ruhe, Lärm, Hektik, Leere, Meditation, Ordnung, Ablenkung, Langeweile, innerer Frieden, Muße… Stille aushalten ist manchmal quälend. Doch in diesem Buch kann ich ihre Qualitäten entdecken.

In Zeiten der Reizüberflutung ist Erling Kagges Buch Stille eine Wohltat. Mit seiner asketischen Aufmachung erzeugt es eine visuelle Stille: angenehmes Schriftbild und breiter Rand, Ruhe ausstrahlende Abbildungen – abgesehen von der bunt-hektischen Straßenszene, die sich unter dem cremefarbenen Schutzumschlag verbirgt und einen faszinierenden Kontrast bildet. So werden wir daran erinnert, dass man Stille nicht nur an ruhigen Orten findet. Wir müssen auch nicht bis zum Südpol reisen. Sich still in eine Ecke setzen und lesen – das ist ein guter Anfang.

Weitere Meinungen zum Buch von Zeichen & Zeiten und aus.gelesen.
Lesetipp: Das Buch der Klänge. Der Akustik-Professor Trevor Cox begab sich darin auch auf die Suche nach der tiefsten Stille.

Erling Kagge: Stille – Ein Wegweiser
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg
Insel Verlag 2017, 144 Seiten
ISBN 978-3-458-17724-1
Leseprobe

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7 Kommentare

  1. Der Band zählt für mich zu den schönsten Leseerfahrungen des Jahres. Vielen Dank für das Verlinken. Viele Grüße

  2. Das Buch würde sich bestimmt neben “Die Nacht” von Paul Bogard sehr wohl fühlen,… wahrscheinlich ähnlich Sehnsucht erweckend. Aber jetzt sag ich nichts mehr und bin ganz still…. pssst.

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