Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit

Nguyen-Kim Wirklichkeit

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Meinung statt Fakten – Shitstorms und Empörungsinflation – selbsternannte Experten auf allen Kanälen. Diskussionen über brisante Themen werden oft von persönlichen Interessen und Vermutungen dominiert, statt durch wissenschaftlich belegte Erkenntnisse. Der Konsens in der Gesellschaft schwindet. Die preisgekrönte Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim will das ändern. In ihrem Buch Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit kämpft sie für eine bessere Streitkultur auf dem Fundament der Wissenschaft. Heiß diskutierte Themen wie die Legalisierung von Drogen, der Gender Pay Gap und die Sicherheit von Impfungen dienen ihr als Aufhänger zur Erläuterung wissenschaftlicher Methoden.

Die Werkzeuge der Wissenschaft – und ihre Grenzen

Forschung ist ungeheuer aufwändig. Sie kostet viel Zeit und Geld und erfordert eine gute Vorbereitung, um wirklich das herauszufinden, wonach man sucht. Da wird auch mal getrickst und manipuliert, zum Beispiel durch Weglassen unerwünschter Ergebnisse. Falsche Vorannahmen verzerren das Bild. Laborergebnisse spiegeln nicht unbedingt die Wirklichkeit wider. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen! Nguyen-Kim hat sich wissenschaftliche Studien zu Streifragen aus der Medizin und der Hirnforschung, der Psychologie, Politik und Gesellschaft herausgepickt und analysiert, wie seriös und aussagekräftig sie sind. Eins ist klar: einfache Antworten gibt es nicht!

Welche Qualitätskriterien und Prüfmechanismen gibt es in der Forschung? Wie stark sind die verwendeten Effektgrößen? Sind die Daten richtig interpretiert worden? Eine gesunde Skepsis ist angebracht. Wir alle benötigen mehr wissenschaftliche Allgemeinbildung, meint Mai Thi Nguyen-Kim, damit wir nicht auf unseriöse Forschung hereinfallen.

Acht Streitfragen im Faktencheck

Am Beispiel der Legalisierung von Drogen zeigt Nguyen-Kim, wie sich mangelnde Objektivität und die falsche Gewichtung einzelner Aspekte auf die Schädlichkeitsbewertung von Drogen auswirken. Anhand von Studien über den Zusammenhang von Videospielen und Gewalt weist sie auf die mangelnde Reproduzierbarkeit vieler psychologischer Studien hin, die bei erneuter Durchführung zu anderen Ergebnissen kommen. Das Thema Erblichkeit von Intelligenz verbindet sie mit einem Crashkurs in Genetik. Im Kapitel über die vermeintlichen Unterschiede zwischen Männer- und Frauengehirnen stellt sie überraschende Erkenntnisse aus der Hirnforschung vor. Wir können sehen, wie wichtig das kulturelle und gesellschaftliche Umfeld einer Studie ist und wie der Publication Bias und der Reverse Bias ein falsches Bild vermitteln. Auch die Corona-Krise schlägt sich im Buch nieder: Im Kapitel zur Sicherheit von Impfungen beschreibt Nguyen-Kim sorgfältig den steinigen Weg zur Entwicklung von Impfstoffen und warum es beim Corona-Impfstoff so schnell ging. Doch sie thematisiert auch die Schmutzkampagnen und Angriffe gegen ihre Person als vermeintliche Lobbyistin für die Pharmaindustrie. Den Gender Pay Gap nimmt sie zum Anlass, um die schlechte Bezahlung von pflegerischen Tätigkeiten in unserer Gesellschaft zu kritisieren, von der hauptsächlich Frauen betroffen sind. Außerdem geht sie auf die Ethik von Tierversuchen und die gravierenden Unterschiede zwischen Schulmedizin und alternativen Heilmethoden ein.

Wissenschaftliche Aufklärung in den Medien

Und wie werden Erkenntnisse aus der Forschung in der Öffentlichkeit verbreitet? Ein Trauerspiel! Erst in Zeiten von Corona ist der Bedarf an wissenschaftlicher Aufklärung aufgefallen. Händeringend wurden Expertinnen und Experten für Virologie, Epidemiologie und andere Spezialgebiete gesucht. Als Wissenschaftsjournalistin beklagt Nguyen-Kim zu Recht, dass abweichende Meinungen und selbsternannte Experten in den Medien einen viel zu breiten Raum einnehmen. Das nennt man False Balance. Der wissenschaftliche Konsens zu Themen wie dem Umgang mit einer Pandemie oder dem Klimawandel wird dadurch relativiert und die Suche nach Lösungen behindert.

Besser Streiten mit der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit

Wer sich für die genannten Themen interessiert oder verstehen möchte, wie Forschende zu ihren Erkenntnissen gelangen und was gute Wissenschaft auszeichnet, ist hier richtig. Das Buch ist klar aufgebaut, mit gut erklärten Fachbegriffen. Ein Glossar zum Nachschlagen wäre allerdings nützlich gewesen, denn die Begriffe tauchen in verschiedenen Kontexten wieder auf. Infoboxen und zahlreiche Grafiken ergänzen den Text. Vom ersten Buch der promovierten Chemikerin, Komisch, alles chemisch!, war ich hellauf begeistert. Beim neuen Buch hat mich der Stil nicht immer angesprochen, doch ich fand es extrem kurzweilig und aufschlussreich! Es liest sich flüssig und überhaupt nicht belehrend. Mit salopper Sprache richtet sich die Autorin eher an ein jüngeres Publikum, so wie in ihren maiLab-Erklär-Videos auf Youtube.

Mai Thi Nguyen-Kim geht es nicht ums Rechthaben, sondern ums bessere Streiten. Wir müssen lernen, überzeugende Behauptungen nicht einfach hinzunehmen und die richtigen Fragen zu stellen. Wir brauchen Offenheit für wissenschaftlich basierte Argumente, damit wir uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen können. Mit ihrem Buch Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit schärft Mai Thi Nguyen-Kim unseren Blick und liefert uns Werkzeuge für eine bessere Debattenkultur.

Im Frühjahr stand Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit bereits auf der Shortlist für den Deutschen Sachbuchpreis. Nun ist das Buch nominiert als Wissensbuch des Jahres 2020/21 in der Kategorie ZÜNDSTOFF und hat auch gewonnen!!!

Weitere Meinungen in den empfehlenswerten Blogs Bleisatz., Travel without Moving und the little queer review.

Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft
Droemer Verlag 2021, 368 Seiten mit Illustrationen von Ivonne Schulze
ISBN 978-3-426-27822-2
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9 Kommentare

  1. Pingback:Wissensbuch des Jahres 2020/21 – Die Nominierungen | Elementares Lesen

  2. Pingback:Streit ja - Empörungsinflation nein – the little queer review

  3. Ich habe es bereits gelesen und bin deiner Meinung, stilistisch gefiel mir ihr Erstling auch besser. Erhellend war es dennoch in etlichen Bereichen.

  4. Dem Kapitel “Sicherheit von Impfungen” wünsche ich eine 100prozentige Verbreitung in unserem Land.
    Auch das Kapitel über die Schulmedizin und alternative Heilmethoden finde ich “verbreitungswürdig”. Das liegt natürlich daran, dass meine (Chemiker-)Kollegin damit Themen aufgegriffen hat, mit denen ich mich auch intensiv beschäftigt habe.
    Die Bandbreite der im Buch behandelten Themen ist für mich dagegen zu umfangreich, jedoch interessant unter dem Aspekt des Buchtitels.
    Noch eine letzte Bemerkung zu “Komisch, alles chemisch”: Ja, der Stil kommt nicht bei jeder/m an, andererseits habe ich jetzt ein Chemiebuch der 8. Klasse gelesen – für das erste Jahr Chemieunterricht an hessischen Schulen -: LANGWEILIG in den ersten Monaten. Und wenn dann die Chemielehrerin wg. gesundheitlicher Probleme den Unterricht nur über Video aus einem Büro aus ohne Experimente durchführt, dann sage ich meiner 8-Klässlerin: Lies “Komisch, alles chemisch”, das bringt mehr Spaß als der Chemieunterricht in der Schule.

    • An meinen Chemieunterricht habe ich nur ungute Erinnerungen. Ich finde es klasse, dass du “Komisch, alles chemisch empfiehlst! Die Autorin kann mit ihrer lockeren Art junge Menschen für die Wissenschaft begeistern.

  5. Pingback:Wissensbuch des Jahres 2020/21 – Die Gewinner | Elementares Lesen

  6. Ich will mich mal dahingehend auf sie einlassen.
    Mal gucken, was ihr Youtube-Kanal bietet. :-)

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